[D66] Die Pandemie als Zäsur

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Wed Oct 7 10:39:39 CEST 2020


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  * 7 Oct 2020
  * Frankfurter Allgemeine Zeitung
  * RENÉ SCHLOTT


  Todeszeit und Weltzeit


    Die Pandemie als Zäsur

 From page N1 Im Oktoberheft der „Vierteljahrshefte für 
Zeitgeschichte“erörtert Andreas Wirsching die Beziehung von 
Nationalstaat und Globalisierung. Er hält es für möglich, dass wir 
gerade das Ende einer „zeitgeschichtlichen Epoche von circa 1970 bis 
2020“erleben, „die von Internationalisierung, Liberalisierung und 
Globalisierung geprägt war“– bis das neuartige Coronavirus um die Welt 
ging. Mit dem Vorschlag einer neuen Epocheneinteilung ebnet Wirsching 
Zäsuren wie den Umbruch in Osteuropa 1989/90, die Terroranschläge 2001, 
die Finanzkrise 2008 oder die Flüchtlingskrise 2015 ein. Der Autor 
gesteht, dass ihm die „Stimme des Augenblicks“diese welthistorische 
Einordnung der Pandemie eingeflüstert hat.

Doch wie Wirsching wagen auch andere Zeithistoriker den Versuch einer 
Historisierung der Geschehnisse der letzten zehn Monate, wenngleich dies 
eine „historische Zäsurbildung unter den Bedingungen der 
Unsicherheit“(Jörn Leonhard) bleiben muss. Denn noch hat die Pandemie 
keinen irgendwie gearteten Abschluss gefunden, sei es durch einen 
Impfstoff oder durch eine Mitteilung der Weltgesundheitsorganisation.

Schon im März stellte der Weltbestsellerautor Yuval Noah Harari in der 
„Financial Times“die Behauptung auf, dass sich die Menschheit in der 
Pandemie an einer Wegscheide befindet – und das gleich in zweifacher 
Hinsicht. Die langfristigen Auswirkungen der Covid-19-Politik führen, so 
prophezeit Harari, entweder zu mehr totalitärer Überwachung oder 
verstärkter zivilgesellschaftlicher Selbstbestimmung, entweder zu mehr 
nationalen Egoismen oder einer neuen globalen Solidarität.

Zwischen ähnlichen Polen bewegt sich Heinrich August Winkler, der seiner 
Ende August bei Beck erschienenen kurzen Geschichte der Deutschen „Wie 
wir wurden, was wir sind“, die mit dem Herbst 2019 endet, ein 
achtseitiges Nachwort „Im Zeichen von Corona“angehängt hat. Auch wenn 
Winkler Anzeichen einer Renationalisierung („,Corona‘ wurde in Europa 
zur Stunde der Nationalstaaten“) sieht, befasst er sich ausführlich mit 
der Europäischen Union. Im Gegensatz zu Jürgen Habermas (F.A.Z. vom 30. 
September) sieht Winkler in der geplanten Ausgabe von EU-Anleihen durch 
die Europäische Kommission zur Finanzierung der Wiederaufbauhilfen keine 
„europapolitische Kehrtwende“Angela Merkels, sondern nur „eine 
Modifikation der bisherigen deutschen Linie“. Denn für die Kredite 
sollen die Mitgliedstaaten nur in der Höhe ihres Beitrages zum 
EU-Haushalt, jedoch nicht gesamtschuldnerisch, haften.

Trotz aller Veränderungen der letzten Monate macht Winkler vor allem 
Kontinuitäten aus. Eine neue Stunde Null (einmal abgesehen davon, dass 
umstritten ist, ob es 1945 nicht zuletzt angesichts der 
Elitenkontinuität überhaupt eine solche gab) vermag der die Zeitläufte 
stets sachlich-nüchtern beobachtende Berliner Historiker nicht zu 
erkennen. Einen Superlativ möchte aber auch er spendieren: „Die 
Beschränkungen der Grundund Freiheitsrechte waren allerdings auch die 
rigorosesten und umfassendsten seit 1945.“

Die Münchner Historikerin Hedwig Richter hat sich in ihrem gleichzeitig 
mit Winklers Buch ebenfalls bei Beck erschienenen Buch „Demokratie. Eine 
deutsche Affäre“bewusst gegen ein der Covid-19-Krise gewidmetes Nachwort 
entschieden. Die Pandemie taucht in ihrer Schlussbetrachtung zwar kurz 
auf, allerdings neben der Klimaerwärmung, der Migration und der 
Benachteiligung von Frauen nur als eine unter vielen Herausforderungen, 
mit denen liberale Demokratien konfrontiert sind.

Dagegen warnt der Niederländer Geert Mak in einem aktuellen, sehr 
ausführlichen Epilog seiner bei Siedler verlegten „Großen 
Erwartungen“vor den langfristigen Wirkungen der Krise auf die offene 
Gesellschaft: „Etliche Staaten werden auf die Regeln und Maßnahmen, mit 
denen sie ihre Bevölkerungen kontrollieren, nicht so schnell verzichten, 
das lehrt die Geschichte.“Für die von Wirsching geäußerte Vermutung 
findet er ein Bild, das man angesichts von einer Million 
Pandemie-Todesopfern paradox oder geschmacklos nennen mag: Der 
„Fiebertraum der Globalisierung“könnte ausgeträumt sein. Mak fragt sich, 
ob die Corona-Krise als „disruptives“oder „transformatives“Ereignis in 
die Geschichtsbücher eingehen wird: „Hier und da liegen Revolutionen in 
der Luft.“

Unter Berufung auf den im letzten Jahr verstorbenen 
ungarisch-amerikanischen Historiker John Lukacs hält Mak sogar nicht 
weniger als das Ende „von fünf Jahrhunderten bürgerlicher Kultur“für 
möglich, denn vieles deutet nach seiner Ansicht darauf hin, dass uns 
allen eine Zukunft „mit weniger Wohlstand, weniger Freiheit und weniger 
Offenheit“bevorsteht. In den Niederlanden ist Maks Nachwort sogar als 
eigenes Taschenbuch gedruckt worden.


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