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<li>Article rank <span class="art-rank-0"></span></li>
<li>7 Oct 2020</li>
<li>Frankfurter Allgemeine Zeitung</li>
<li>RENÉ SCHLOTT</li>
</ul>
<h1>Todeszeit und Weltzeit<a class="button b-translate b-exp"><span></span></a><span
class="slider"><span></span></span></h1>
<div class="clear">
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<h2>Die Pandemie als Zäsur</h2>
<p> <a class="from">From page N1</a> Im Oktoberheft der
„Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“erörtert Andreas
Wirsching die Beziehung von Nationalstaat und Globalisierung.
Er hält es für möglich, dass wir gerade das Ende einer
„zeitgeschichtlichen Epoche von circa 1970 bis 2020“erleben,
„die von Internationalisierung, Liberalisierung und
Globalisierung geprägt war“– bis das neuartige Coronavirus um
die Welt ging. Mit dem Vorschlag einer neuen Epocheneinteilung
ebnet Wirsching Zäsuren wie den Umbruch in Osteuropa 1989/90,
die Terroranschläge 2001, die Finanzkrise 2008 oder die
Flüchtlingskrise 2015 ein. Der Autor gesteht, dass ihm die
„Stimme des Augenblicks“diese welthistorische Einordnung der
Pandemie eingeflüstert hat. </p>
<p> Doch wie Wirsching wagen auch andere Zeithistoriker den
Versuch einer Historisierung der Geschehnisse der letzten zehn
Monate, wenngleich dies eine „historische Zäsurbildung unter
den Bedingungen der Unsicherheit“(Jörn Leonhard) bleiben muss.
Denn noch hat die Pandemie keinen irgendwie gearteten
Abschluss gefunden, sei es durch einen Impfstoff oder durch
eine Mitteilung der Weltgesundheitsorganisation. </p>
<p> Schon im März stellte der Weltbestsellerautor Yuval Noah
Harari in der „Financial Times“die Behauptung auf, dass sich
die Menschheit in der Pandemie an einer Wegscheide befindet –
und das gleich in zweifacher Hinsicht. Die langfristigen
Auswirkungen der Covid-19-Politik führen, so prophezeit
Harari, entweder zu mehr totalitärer Überwachung oder
verstärkter zivilgesellschaftlicher Selbstbestimmung, entweder
zu mehr nationalen Egoismen oder einer neuen globalen
Solidarität. </p>
<p> Zwischen ähnlichen Polen bewegt sich Heinrich August
Winkler, der seiner Ende August bei Beck erschienenen kurzen
Geschichte der Deutschen „Wie wir wurden, was wir sind“, die
mit dem Herbst 2019 endet, ein achtseitiges Nachwort „Im
Zeichen von Corona“angehängt hat. Auch wenn Winkler Anzeichen
einer Renationalisierung („,Corona‘ wurde in Europa zur Stunde
der Nationalstaaten“) sieht, befasst er sich ausführlich mit
der Europäischen Union. Im Gegensatz zu Jürgen Habermas
(F.A.Z. vom 30. September) sieht Winkler in der geplanten
Ausgabe von EU-Anleihen durch die Europäische Kommission zur
Finanzierung der Wiederaufbauhilfen keine „europapolitische
Kehrtwende“Angela Merkels, sondern nur „eine Modifikation der
bisherigen deutschen Linie“. Denn für die Kredite sollen die
Mitgliedstaaten nur in der Höhe ihres Beitrages zum
EU-Haushalt, jedoch nicht gesamtschuldnerisch, haften. </p>
</div>
<div class="art-layout-b-2x" id="testArtCol_b">
<p> Trotz aller Veränderungen der letzten Monate macht Winkler
vor allem Kontinuitäten aus. Eine neue Stunde Null (einmal
abgesehen davon, dass umstritten ist, ob es 1945 nicht zuletzt
angesichts der Elitenkontinuität überhaupt eine solche gab)
vermag der die Zeitläufte stets sachlich-nüchtern beobachtende
Berliner Historiker nicht zu erkennen. Einen Superlativ möchte
aber auch er spendieren: „Die Beschränkungen der Grundund
Freiheitsrechte waren allerdings auch die rigorosesten und
umfassendsten seit 1945.“ </p>
<p> Die Münchner Historikerin Hedwig Richter hat sich in ihrem
gleichzeitig mit Winklers Buch ebenfalls bei Beck erschienenen
Buch „Demokratie. Eine deutsche Affäre“bewusst gegen ein der
Covid-19-Krise gewidmetes Nachwort entschieden. Die Pandemie
taucht in ihrer Schlussbetrachtung zwar kurz auf, allerdings
neben der Klimaerwärmung, der Migration und der
Benachteiligung von Frauen nur als eine unter vielen
Herausforderungen, mit denen liberale Demokratien konfrontiert
sind. </p>
<p> Dagegen warnt der Niederländer Geert Mak in einem aktuellen,
sehr ausführlichen Epilog seiner bei Siedler verlegten „Großen
Erwartungen“vor den langfristigen Wirkungen der Krise auf die
offene Gesellschaft: „Etliche Staaten werden auf die Regeln
und Maßnahmen, mit denen sie ihre Bevölkerungen kontrollieren,
nicht so schnell verzichten, das lehrt die Geschichte.“Für die
von Wirsching geäußerte Vermutung findet er ein Bild, das man
angesichts von einer Million Pandemie-Todesopfern paradox oder
geschmacklos nennen mag: Der „Fiebertraum der
Globalisierung“könnte ausgeträumt sein. Mak fragt sich, ob die
Corona-Krise als „disruptives“oder „transformatives“Ereignis
in die Geschichtsbücher eingehen wird: „Hier und da liegen
Revolutionen in der Luft.“ </p>
<p> Unter Berufung auf den im letzten Jahr verstorbenen
ungarisch-amerikanischen Historiker John Lukacs hält Mak sogar
nicht weniger als das Ende „von fünf Jahrhunderten
bürgerlicher Kultur“für möglich, denn vieles deutet nach
seiner Ansicht darauf hin, dass uns allen eine Zukunft „mit
weniger Wohlstand, weniger Freiheit und weniger
Offenheit“bevorsteht. In den Niederlanden ist Maks Nachwort
sogar als eigenes Taschenbuch gedruckt worden. </p>
</div>
</div>
<div class="art-storyorder"><a title="Der Gesetzgeber hat den Schuss
nicht gehört" class="button-big button-big-back"><span><br>
</span></a><a title="Das Schweigen der Reformer"
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