[D66] Mit Wikipedia durch die Corona-Kontroversen

R.O. jugg at ziggo.nl
Wed Oct 7 10:34:52 CEST 2020


  * Article rank
  * 7 Oct 2020
  * Frankfurter Allgemeine Zeitung
  * Von Thomas Grundmann Der Autor ist Philosoph. Er lehrt
    Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Logik an der Universität
    zu Köln.


  Mit Wikipedia durch die Corona-Kontroversen

Wem glauben, wenn die Wissenschaft vielstimmig auftritt? Eine Checkliste

Das neuartige Coronavirus bedroht unser Leben in einem bislang kaum 
gekannten Ausmaß. Aber es stellt unsere Gesellschaft zugleich auch vor 
ein massives Erkenntnisproblem. Seit dem ersten registrierten Auftreten 
menschlicher Infektionen im Dezember 2019 hat die Wissenschaft vieles 
über dieses Virus und seine Auswirkungen auf den Menschen dazugelernt. 
Aber über wichtige Fragen gibt es nach wie vor keinen wissenschaftlichen 
Konsens: Wie hoch ist die tatsächliche Infektionssterblichkeit? Wie 
genau wird sich die Pandemie weiterentwickeln? Wie wirksam sind 
bestimmte Schutzmaßnahmen? Wenn man fragt, was die Wissenschaft zu 
diesen Fragen sagt, wird man gegenwärtig keine eindeutige Auskunft 
bekommen.

Christian Drosten sieht Deutschland im Herbst 2020 am Anfang einer 
potentiell gefährlichen Entwicklung. Hendrik Streeck schätzt dagegen die 
gegenwärtige Situation als eher entspannt ein. Sucharit Bhakdi 
schließlich hält die Corona-Epidemie für nicht gefährlicher als eine 
saisonale Grippe und die Todeszahlen primär für ein Konstrukt unserer 
Zählweise. Für Naturwissenschaftler sind Kontroversen über neuartige 
Phänomene weder ungewöhnlich noch bedrohlich. Angesichts der immer noch 
lückenhaften Datenbasis versuchen sie, im Wettbewerb um die besten Ideen 
der Wahrheit Schritt für Schritt näher zu kommen. Damit kann die 
Wissenschaft gut leben. Ganz anders Gesellschaft und Politik. Beide sind 
dringend auf eindeutige (wenn auch nicht sichere) Urteile über die 
relevanten Fakten angewiesen. Nur so können wichtige individuelle und 
politische Entscheidungen schnell getroffen werden.

Lässt sich die Diskrepanz zwischen der Vielheit der Stimmen aus der 
Wissenschaft und den eindeutigen, gesellschaftlich erhofften Antworten 
beheben? Öffentlichkeit und Politik könnten versucht sein, diejenigen 
Antworten auszuwählen, die ihnen am plausibelsten erscheinen. Doch das 
würde auf eine unverantwortliche Selbstüberschätzung hinauslaufen. Warum 
sollte jemand, der selbst kein Experte für Virologie, Epidemiologie oder 
Immunologie ist, beurteilen können, welche Expertenmeinung wahr ist?

Es gibt für den Laien jedoch eine andere Möglichkeit, die maßgebliche 
unter den vielen Stimmen der Wissenschaft zu identifizieren. Zunächst 
sollte er nur diejenigen Personen unter den selbsterklärten Experten 
berücksichtigen, die wirklich einschlägig für das fragliche Thema sind. 
Ein einschlägiger Experte hat die nötige Spezialisierung, ist ein echter 
Wissenschaftler und forscht aktiv. Doch selbst einschlägige Expertinnen 
sollten nicht berücksichtigt werden, wenn sie inkompetent urteilen, weil 
ihr Urteil interessenabhängig ist oder weil sie einfach handwerkliche 
Fehler machen. Schließlich sollte der Laie prüfen, ob es unter den 
verbleibenden Personen eine sich abzeichnende Mehrheitsmeinung gibt. 
Wissenschaftliche Expertinnen erfüllen beide Bedingungen. Wenn man also 
nach der Wahrheit sucht, sollte man sich nach der Mehrheitsmeinung von 
Experten richten.

Es mag überraschen, dass der Laie erkennen können soll, ob eine Expertin 
wirklich einschlägig ist, ob es berechtigte Bedenken gegen die Kompetenz 
ihres Urteils gibt und welche Mehrheitsmeinung sich unter den relevanten 
Expertinnen abzeichnet. Schaut man genauer hin, dann ist es tatsächlich 
gar nicht so schwer, wie es zunächst aussieht. Die Laiin muss nur einen 
Schnellcheck in drei Schritten durchführen und kann die dafür nötigen 
Informationen durch eine kurze Internetrecherche zusammentragen. 
Allerdings ist Vorsicht geboten. Nicht alle Internetseiten sind 
zuverlässig und vertrauenswürdig. Andererseits ist es für Laien oft 
schwierig, die zuverlässigsten Informationen über Datenbanken von 
Forschungsinstitutionen, investigative Recherchen von Qualitätsmedien 
oder wissenschaftliche Metastudien zu wissenschaftlichen Konvergenzen zu 
finden und, vor allem, zu verstehen. Der Start mit der 
Internetenzyklopädie Wikipedia ist deshalb ein guter Kompromiss. Man 
kann dort leicht aktuelle Informationen zu praktisch allem finden, und 
in puncto Zuverlässigkeit kann Wikipedia, wie verschiedene empirische 
Studien gezeigt haben, mit renommierten kommerziellen Enzyklopädien 
durchaus mithalten. Wikipedia ist natürlich nicht schlauer als die 
Experten selbst, aber den dort verfügbaren wissenschaftlichen 
Lebensläufen und Dokumentationen der Verläufe von wissenschaftlichen 
Debatten kann man in der Regel trauen. Ein klarer Vorteil ist es, dass 
bei Wikipedia alle nötigen Informationen für jedermann leicht und zudem 
auf Deutsch verfügbar sind. Sehen wir uns die Checkliste einmal genauer an:

Schritt 1: Ist der betrachtete Experte wirklich einschlägig? Dazu muss 
die fragliche Person auf das Fachgebiet des fraglichen Themas 
spezialisiert sein. Wenn es um Fragen der Virologie oder Epidemiologie 
geht, dann genügt es nicht, wenn jemand Mediziner mit einer 
Spezialisierung in Orthopädie ist wie Andreas Gassen, der 
Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung, der neuerdings 
Stammgast in Fernsehdiskussionsrunden über die Corona-Infektion ist. 
Einschlägige medizinische Experten sind zudem wissenschaftliche 
Experten, die zu dem Spezialgebiet aktiv forschen und in anerkannten 
Fachzeitschriften regelmäßig veröffentlichen. Eine Tätigkeit als 
praktizierender Arzt in diesem Bereich genügt dafür nicht. Ob Personen 
diese Bedingungen erfüllen, lässt sich häufig durch einen gezielten 
Blick in die WikipediaEinträge zu den Personen ermitteln. Ein Beispiel: 
Anfang 2019 gab es eine öffentliche Debatte darüber, ob eine 
geringfügige Überschreitung der bei uns geltenden Grenzwerte für 
Stickoxide überhaupt gesundheitsgefährdend ist. Der Lungenfacharzt 
Dieter Köhler bestritt das in einem öffentlichen Positionspapier. Aber 
ein Blick in Wikipedia hätte sofort zeigen können, dass Köhler, obwohl 
er einen Professorentitel trägt, kein Wissenschaftler, sondern 
ärztlicher Direktor eines Krankenhauses war, und dass er zum Thema 
Stickoxide nie aktiv geforscht hat. Auf ähnliche Weise lassen sich auch 
die Experten, die sich an der Diskussion über die Corona-Pandemie 
beteiligen, überprüfen. Findet man in Wikipedia keinen oder nur einen 
wenig aussagekräftigen Eintrag zu einem vermeintlichen Experten, dann 
lohnt es sich, über Google nach der Forschungsinstitution zu suchen, an 
der die Person arbeitet. Dort findet man fast immer einen Lebenslauf, 
der Auskunft über die Spezialisierung, die Forschungsarbeiten und die 
Aktivitäten der Betreffenden gibt.

Schritt 2: Ist das Urteil der Expertin kompetent, oder unterliegt es 
verzerrenden Einflüssen? Die Urteilskompetenz des Experten kann im 
konkreten Fall entweder durch Befangenheit oder durch handwerkliche 
Fehler beim wissenschaftlichen Arbeiten beeinträchtigt sein. Sofern es 
Hinweise gibt, liefert Wikipedia häufig erste Anhaltspunkte für 
Interessenverflechtungen und finanzielle Abhängigkeiten. Wie sieht es 
mit der Aufdeckung handwerklicher Fehler aus? Einer der Autoren des 
„Spiegel“-Bestsellers „Corona Fehlalarm?“ist der bereits erwähnte, im 
Ruhestand befindliche ehemalige Mainzer Virologe Sucharit Bhakdi. In dem 
Buch werden die besondere Gefährlichkeit des Coronavirus bestritten und 
viele der geltenden Schutzmaßnahmen als unwirksam und überzogen 
kritisiert. Auf Wikipedia ist vorbildlich dokumentiert, dass sich 
Wissenschaftler und sogar ganze Wissenschaftsinstitutionen wie die 
Kieler Universität scharenweise von der wissenschaftlichen Seriosität 
des Buches distanziert haben.

Schritt 3: Und wie kann der Laie schließlich die Tendenz zur 
wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung in bestimmten Debatten erkennen, 
wenn ein klarer Konsens im Fach nicht existiert? Hier sollte man 
zunächst danach schauen, ob es sich bei den Thesen von Experten um 
isolierte Einzelmeinungen handelt, die von einer breiten Mehrheit von 
Wissenschaftlern abgelehnt werden. Auch dabei kann Wikipedia unter den 
entsprechenden Stichwörtern weiterhelfen, wenn auch manchmal mit etwas 
zeitlicher Verzögerung. Ein Beispiel: Peter Duesberg war ein 
international renommierter Virologe, als er Ende der neunziger Jahre mit 
seiner These Aufsehen erregte, dass Aids nicht durch eine HIV-Infektion 
ausgelöst werde. Duesbergs Einfluss auf den damaligen südafrikanischen 
Präsidenten Mbeki führte zu dessen Kehrtwende in der AntiAids-Politik 
und vermutlich zu mehreren 100 000 Toten. Dass diese These einhellig von 
der Wissenschaft zurückgewiesen wurde, ist im Wikipedia-Artikel über 
Duesberg transparent dokumentiert. Ein anderes zuverlässiges und leicht 
zugängliches Hilfsmittel ist die deutschsprachige Website des Science 
Media Centers Germany, die aktuelle Forschungsbeiträge nach Themen 
geordnet vorstellt und Meinungen führender Spezialisten dazu einholt und 
dokumentiert.

Wenn Laien Informationsressourcen wie Wikipedia auf diese Weise 
konsequent nutzen, dann können sie die Diskrepanz zwischen dem 
vielstimmigen Konzert der Wissenschaften und der gesellschaftspolitisch 
dringend benötigten eindeutigen Antwort zumindest manchmal überbrücken. 
Solange es keine öffentlich-rechtliche und allgemeinverständliche 
Plattform für Meta-daten über Experten und wissenschaftliche Trends 
gibt, ist das für Laien klar der beste Weg. Man sollte dabei niemals 
vergessen, dass auch Politiker, Medienmacher und sogar Wissenschaftler, 
wenn es um spezifische wissenschaftliche Fragen geht, häufig nichts 
anderes sind als Laien.


-------------- next part --------------
An HTML attachment was scrubbed...
URL: <http://www.tuxtown.net/pipermail/d66/attachments/20201007/ed163cab/attachment.html>


More information about the D66 mailing list