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  </head>
  <body>
    <ul class="art-meta">
      <li>Article rank <span class="art-rank-0"></span></li>
      <li>7 Oct 2020</li>
      <li>Frankfurter Allgemeine Zeitung</li>
      <li>Von Thomas Grundmann Der Autor ist Philosoph. Er lehrt
        Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Logik an der
        Universität zu Köln.</li>
    </ul>
    <h1>Mit Wikipedia durch die Corona-Kontroversen </h1>
    Wem glauben, wenn die Wissenschaft vielstimmig auftritt? Eine
    Checkliste
    <div class="clear">
      <div class="art-layout-a-2x" id="testArtCol_a">
        <p> Das neuartige Coronavirus bedroht unser Leben in einem
          bislang kaum gekannten Ausmaß. Aber es stellt unsere
          Gesellschaft zugleich auch vor ein massives Erkenntnisproblem.
          Seit dem ersten registrierten Auftreten menschlicher
          Infektionen im Dezember 2019 hat die Wissenschaft vieles über
          dieses Virus und seine Auswirkungen auf den Menschen
          dazugelernt. Aber über wichtige Fragen gibt es nach wie vor
          keinen wissenschaftlichen Konsens: Wie hoch ist die
          tatsächliche Infektionssterblichkeit? Wie genau wird sich die
          Pandemie weiterentwickeln? Wie wirksam sind bestimmte
          Schutzmaßnahmen? Wenn man fragt, was die Wissenschaft zu
          diesen Fragen sagt, wird man gegenwärtig keine eindeutige
          Auskunft bekommen. </p>
        <p> Christian Drosten sieht Deutschland im Herbst 2020 am Anfang
          einer potentiell gefährlichen Entwicklung. Hendrik Streeck
          schätzt dagegen die gegenwärtige Situation als eher entspannt
          ein. Sucharit Bhakdi schließlich hält die Corona-Epidemie für
          nicht gefährlicher als eine saisonale Grippe und die
          Todeszahlen primär für ein Konstrukt unserer Zählweise. Für
          Naturwissenschaftler sind Kontroversen über neuartige
          Phänomene weder ungewöhnlich noch bedrohlich. Angesichts der
          immer noch lückenhaften Datenbasis versuchen sie, im
          Wettbewerb um die besten Ideen der Wahrheit Schritt für
          Schritt näher zu kommen. Damit kann die Wissenschaft gut
          leben. Ganz anders Gesellschaft und Politik. Beide sind
          dringend auf eindeutige (wenn auch nicht sichere) Urteile über
          die relevanten Fakten angewiesen. Nur so können wichtige
          individuelle und politische Entscheidungen schnell getroffen
          werden. </p>
        <p> Lässt sich die Diskrepanz zwischen der Vielheit der Stimmen
          aus der Wissenschaft und den eindeutigen, gesellschaftlich
          erhofften Antworten beheben? Öffentlichkeit und Politik
          könnten versucht sein, diejenigen Antworten auszuwählen, die
          ihnen am plausibelsten erscheinen. Doch das würde auf eine
          unverantwortliche Selbstüberschätzung hinauslaufen. Warum
          sollte jemand, der selbst kein Experte für Virologie,
          Epidemiologie oder Immunologie ist, beurteilen können, welche
          Expertenmeinung wahr ist? </p>
        <p> Es gibt für den Laien jedoch eine andere Möglichkeit, die
          maßgebliche unter den vielen Stimmen der Wissenschaft zu
          identifizieren. Zunächst sollte er nur diejenigen Personen
          unter den selbsterklärten Experten berücksichtigen, die
          wirklich einschlägig für das fragliche Thema sind. Ein
          einschlägiger Experte hat die nötige Spezialisierung, ist ein
          echter Wissenschaftler und forscht aktiv. Doch selbst
          einschlägige Expertinnen sollten nicht berücksichtigt werden,
          wenn sie inkompetent urteilen, weil ihr Urteil
          interessenabhängig ist oder weil sie einfach handwerkliche
          Fehler machen. Schließlich sollte der Laie prüfen, ob es unter
          den verbleibenden Personen eine sich abzeichnende
          Mehrheitsmeinung gibt. Wissenschaftliche Expertinnen erfüllen
          beide Bedingungen. Wenn man also nach der Wahrheit sucht,
          sollte man sich nach der Mehrheitsmeinung von Experten
          richten. </p>
        <p> Es mag überraschen, dass der Laie erkennen können soll, ob
          eine Expertin wirklich einschlägig ist, ob es berechtigte
          Bedenken gegen die Kompetenz ihres Urteils gibt und welche
          Mehrheitsmeinung sich unter den relevanten Expertinnen
          abzeichnet. Schaut man genauer hin, dann ist es tatsächlich
          gar nicht so schwer, wie es zunächst aussieht. Die Laiin muss
          nur einen Schnellcheck in drei Schritten durchführen und kann
          die dafür nötigen Informationen durch eine kurze
          Internetrecherche zusammentragen. Allerdings ist Vorsicht
          geboten. Nicht alle Internetseiten sind zuverlässig und
          vertrauenswürdig. Andererseits ist es für Laien oft schwierig,
          die zuverlässigsten Informationen über Datenbanken von
          Forschungsinstitutionen, investigative Recherchen von
          Qualitätsmedien oder wissenschaftliche Metastudien zu
          wissenschaftlichen Konvergenzen zu finden und, vor allem, zu
          verstehen. Der Start mit der Internetenzyklopädie Wikipedia
          ist deshalb ein guter Kompromiss. Man kann dort leicht
          aktuelle Informationen zu praktisch allem finden, und in
          puncto Zuverlässigkeit kann Wikipedia, wie verschiedene
          empirische Studien gezeigt haben, mit renommierten
          kommerziellen Enzyklopädien durchaus mithalten. Wikipedia ist
          natürlich nicht schlauer als die Experten selbst, aber den
          dort verfügbaren wissenschaftlichen Lebensläufen und
          Dokumentationen der Verläufe von wissenschaftlichen Debatten
          kann man in der Regel trauen. Ein klarer Vorteil ist es, dass
          bei Wikipedia alle nötigen Informationen für jedermann leicht
          und zudem auf Deutsch verfügbar sind. Sehen wir uns die
          Checkliste einmal genauer an: </p>
      </div>
      <div class="art-layout-b-2x" id="testArtCol_b">
        <p> Schritt 1: Ist der betrachtete Experte wirklich einschlägig?
          Dazu muss die fragliche Person auf das Fachgebiet des
          fraglichen Themas spezialisiert sein. Wenn es um Fragen der
          Virologie oder Epidemiologie geht, dann genügt es nicht, wenn
          jemand Mediziner mit einer Spezialisierung in Orthopädie ist
          wie Andreas Gassen, der Vorstandsvorsitzende der
          Kassenärztlichen Vereinigung, der neuerdings Stammgast in
          Fernsehdiskussionsrunden über die Corona-Infektion ist.
          Einschlägige medizinische Experten sind zudem
          wissenschaftliche Experten, die zu dem Spezialgebiet aktiv
          forschen und in anerkannten Fachzeitschriften regelmäßig
          veröffentlichen. Eine Tätigkeit als praktizierender Arzt in
          diesem Bereich genügt dafür nicht. Ob Personen diese
          Bedingungen erfüllen, lässt sich häufig durch einen gezielten
          Blick in die WikipediaEinträge zu den Personen ermitteln. Ein
          Beispiel: Anfang 2019 gab es eine öffentliche Debatte darüber,
          ob eine geringfügige Überschreitung der bei uns geltenden
          Grenzwerte für Stickoxide überhaupt gesundheitsgefährdend ist.
          Der Lungenfacharzt Dieter Köhler bestritt das in einem
          öffentlichen Positionspapier. Aber ein Blick in Wikipedia
          hätte sofort zeigen können, dass Köhler, obwohl er einen
          Professorentitel trägt, kein Wissenschaftler, sondern
          ärztlicher Direktor eines Krankenhauses war, und dass er zum
          Thema Stickoxide nie aktiv geforscht hat. Auf ähnliche Weise
          lassen sich auch die Experten, die sich an der Diskussion über
          die Corona-Pandemie beteiligen, überprüfen. Findet man in
          Wikipedia keinen oder nur einen wenig aussagekräftigen Eintrag
          zu einem vermeintlichen Experten, dann lohnt es sich, über
          Google nach der Forschungsinstitution zu suchen, an der die
          Person arbeitet. Dort findet man fast immer einen Lebenslauf,
          der Auskunft über die Spezialisierung, die Forschungsarbeiten
          und die Aktivitäten der Betreffenden gibt. </p>
        <p> Schritt 2: Ist das Urteil der Expertin kompetent, oder
          unterliegt es verzerrenden Einflüssen? Die Urteilskompetenz
          des Experten kann im konkreten Fall entweder durch
          Befangenheit oder durch handwerkliche Fehler beim
          wissenschaftlichen Arbeiten beeinträchtigt sein. Sofern es
          Hinweise gibt, liefert Wikipedia häufig erste Anhaltspunkte
          für Interessenverflechtungen und finanzielle Abhängigkeiten.
          Wie sieht es mit der Aufdeckung handwerklicher Fehler aus?
          Einer der Autoren des „Spiegel“-Bestsellers „Corona
          Fehlalarm?“ist der bereits erwähnte, im Ruhestand befindliche
          ehemalige Mainzer Virologe Sucharit Bhakdi. In dem Buch werden
          die besondere Gefährlichkeit des Coronavirus bestritten und
          viele der geltenden Schutzmaßnahmen als unwirksam und
          überzogen kritisiert. Auf Wikipedia ist vorbildlich
          dokumentiert, dass sich Wissenschaftler und sogar ganze
          Wissenschaftsinstitutionen wie die Kieler Universität
          scharenweise von der wissenschaftlichen Seriosität des Buches
          distanziert haben. </p>
        <p> Schritt 3: Und wie kann der Laie schließlich die Tendenz zur
          wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung in bestimmten Debatten
          erkennen, wenn ein klarer Konsens im Fach nicht existiert?
          Hier sollte man zunächst danach schauen, ob es sich bei den
          Thesen von Experten um isolierte Einzelmeinungen handelt, die
          von einer breiten Mehrheit von Wissenschaftlern abgelehnt
          werden. Auch dabei kann Wikipedia unter den entsprechenden
          Stichwörtern weiterhelfen, wenn auch manchmal mit etwas
          zeitlicher Verzögerung. Ein Beispiel: Peter Duesberg war ein
          international renommierter Virologe, als er Ende der neunziger
          Jahre mit seiner These Aufsehen erregte, dass Aids nicht durch
          eine HIV-Infektion ausgelöst werde. Duesbergs Einfluss auf den
          damaligen südafrikanischen Präsidenten Mbeki führte zu dessen
          Kehrtwende in der AntiAids-Politik und vermutlich zu mehreren
          100 000 Toten. Dass diese These einhellig von der Wissenschaft
          zurückgewiesen wurde, ist im Wikipedia-Artikel über Duesberg
          transparent dokumentiert. Ein anderes zuverlässiges und leicht
          zugängliches Hilfsmittel ist die deutschsprachige Website des
          Science Media Centers Germany, die aktuelle Forschungsbeiträge
          nach Themen geordnet vorstellt und Meinungen führender
          Spezialisten dazu einholt und dokumentiert. </p>
        <p> Wenn Laien Informationsressourcen wie Wikipedia auf diese
          Weise konsequent nutzen, dann können sie die Diskrepanz
          zwischen dem vielstimmigen Konzert der Wissenschaften und der
          gesellschaftspolitisch dringend benötigten eindeutigen Antwort
          zumindest manchmal überbrücken. Solange es keine
          öffentlich-rechtliche und allgemeinverständliche Plattform für
          Meta-daten über Experten und wissenschaftliche Trends gibt,
          ist das für Laien klar der beste Weg. Man sollte dabei niemals
          vergessen, dass auch Politiker, Medienmacher und sogar
          Wissenschaftler, wenn es um spezifische wissenschaftliche
          Fragen geht, häufig nichts anderes sind als Laien. </p>
      </div>
    </div>
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        </span></a><a title="Schonendes Recycling" class="button-big
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