[D66] Ein Philosoph spielt Roulette
R.O.
jugg at ziggo.nl
Fri Nov 13 14:35:38 CET 2020
*
* 13 Nov 2020
* Frankfurter Allgemeine Zeitung
* WOLFGANG MATZ
Ein Philosoph spielt Roulette
Lange erwartet und nun auch auf Deutsch: Howard Eilands und Michael
W. Jennings’ umfassende Biographie Walter Benjamins wird für lange
Zeit Standard bleiben. Doch gravierende Mängel schließt das nicht aus.
Beim melancholischen Blick auf seine Schriften fand Walter Benjamin
schon im Juli 1932 nur noch eine „Trümmer- und Katastrophenstätte, von
der ich keine Grenze absehen kann, wenn ich das Auge über meine nächsten
Jahre schweifen lasse“. Behielt er auch recht mit seiner Prophezeiung,
so hätte er eines doch nie zu erwarten gewagt: die Wiederentdeckung nach
der Weltkatastrophe und die weltweite Wirkung eines Korpus von Texten,
der nicht nur äußerlich so fragmentarisch, rätselhaft, ja
widersprüchlich ist, dass er sich im Grunde gegen eine solche Wirkung
massiv sperrt. Und man fragt sich, ob diese Wirkung überhaupt je
zustande gekommen wäre ohne den jahrzehntelangen Einsatz seiner Freunde
Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, denen sich die posthume
Publikationsgeschichte verdankt. Wenig spricht dafür, dass ohne sie ein
Werk Eingang in den philosophischen Kanon des zwanzigsten Jahrhunderts
gefunden hätte, das neben zahllosen Aufsätzen und Rezensionen Bücher
über so spezielle Themen
/Foto Akademie der Künste, Berlin/ Bertolt-Brecht-Archiv /Bertolt Brecht
und Benjamin 1934 beim Schachspiel in Brechts Garten am Skovsbostrand in
Dänemark
wie die Kunstkritik in der deutschen Romantik und das barocke
Trauerspiel umfasst, zu schweigen von dem gigantischen Material- und
Aufzeichnungsarchiv des unvollendeten Projekts über „Paris, die
Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“.
In dem längst uferlosen Schrifttum über Benjamin gab es sehr lange eine
auffällige Leerstelle: die fehlende umfassende Biographie zu Leben und
Werk. Geschlossen wurde sie 2014 mit dem Buch von Howard Eiland und
Michael W. Jennings, Benjamins amerikanische Herausgeber und Übersetzer,
das nun auch auf Deutsch erschienen ist. Fragt man nach den Forderungen,
die heute an eine solche Monographie zu stellen sind, muss man noch
einmal zurückgehen auf die Werk- und Publikationsgeschichte. Benjamins
intellektuelle Existenz, soweit sie in Texten nachlesbar ist, umfasst
die drei Jahrzehnte zwischen 1910 und 1940, die Krisen- und
Katastrophenjahre Europas und der Welt. Die literarische und
philosophische Spannweite reicht dabei von Stefan George und Hölderlin
bis zu Bertolt Brecht und Erich Kästner, von Marcel Proust und Julien
Green bis zum Surrealismus und zur russischen Avantgarde, von der
jüdischen Mystik bis zu Marx. Ende der zwanziger Jahre etwa arbeitete er
an zwei Lexikonartikeln: Für die „Encyclopaedia Judaica“schrieb er über
„Juden in der deutschen Kultur“, für die „Große Sowjet-Enzyklopädie“über
Goethe. Dass beide Auftraggeber, die wohl kein anderer zugleich gehabt
haben dürfte, Benjamins Texte nur vollkommen umgearbeitet und laut
Benjamin „von allem Wesentlichen gereinigt“druckten, verwundert kaum,
ist aber sprechendes Beispiel für seine schwindelerregende und kaum
haltbare Position in den damaligen Zeitläuften.
Der Kampf der Nachwelt um den „wahren Benjamin“
Zu Benjamins Lebzeiten äußerte sich diese zuweilen bizarre Konstellation
in der eifersüchtigen Konkurrenz unter seinen Freunden und
Gesprächspartnern: Hugo von Hofmannsthal wurde nur selektiv mit Lektüre
versorgt, der Zionist Scholem legte den Finger auf jede dialektische
Verrenkung seines Freundes, Asja Lacis verhinderte mit allen Mitteln die
Reise ihres Verehrers nach Palästina, Adorno registrierte entsetzt den
Einfluss von Brechts rabulistischem Materialismus, dieser nährte sein
antiintellektuelles Ressentiment beim Blättern in der „Zeitschrift für
Sozialforschung“, und Max Rychner, einer der wenigen liberalen
Publizisten in Benjamins Bekanntenkreis, schwankte zwischen
Kopfschütteln und Bewunderung. Der Betroffene selbst reagierte mit
Diplomatie, Schweigen, Verstellung, oder eben mit jenem „bluff pur et
simple“, den der ebenfalls eifersüchtige Werner Kraft beklagte.
Die Nachwelt spaltete sich konsequent in Fraktionen, welche die direkt
Beteiligten an Eifersucht und Konkurrenz bald noch übertrafen. Besonders
die Stilisierung Benjamins zu einem marxistischen oder materialistischen
Klassiker musste sich gewaltsam absetzen von den Interpretationen durch
Scholem und Adorno – so verschieden diese beiden schon waren. Die
Polemik um die Nachlasseditionen wirkt im Rückblick absurd, aber sie
unterfütterte ständig von neuem den Verdacht, irgendwer hätte immer
gerade den „wahren“Benjamin verfälscht oder seine „marxistische
Wendung“unterdrücken wollen. Ganze Regalmeter an Benjamin-Deutung leiden
bis heute an diesen Schismen, und vor allem auch die ersten Biographien
von Werner Fuld und Momme Brodersen sind inzwischen in weiten Teilen
fast unbrauchbar durch ihre Parteinahmen in einem fiktiven, längst
historisch gewordenen Grabenkampf.
Ein widersprüchliches Werk wird tendenziell vereinheitlicht
Fragt man also, was die lang erhoffte Benjamin-Biographie heute zu
leisten hat, so ist es vor allem die Ablösung von diesen unfruchtbaren
Traditionen. Die große Ausgabe der „Gesammelten Briefe“, die noch nicht
abgeschlossene kritische Neuedition der Werke bilden eine Basis, die
frühere Biographen noch nicht besaßen. Dem Zerfall der Ideologien nach
der Epochenschwelle 1989 verdanken wir darüber hinaus Zugänge zu
Benjamins Werk, in denen Vielfalt und Widersprüchlichkeit wichtiger sind
als die reine Lehre. Nicht weniger als die Summe aus diesen Quellen war
lange überfällig.
Howard Eiland und Michael W. Jennings war diese Forderung bewusst, und
das rechtfertigt den enormen Umfang ihrer Monographie. Und vorweg: Das
Buch übertrifft alle bisherigen Biographien bei weitem und wird für
lange Zeit Standard bleiben. Denn trotz mancher Einwände, die
anzubringen sind, leistet es zunächst das Wesentliche: Es umfasst den
ganzen Benjamin, nutzt alle vorhandenen Quellen, gibt der persönlichen
Entwicklung so viel Gewicht wie der intellektuellen. Besonders im
persönlichen Lebensbereich ist mehr zu erfahren denn je: Eiland und
Jennings erzählen nicht nur die Familiengeschichte, sie würdigen den
prägenden Einfluss seiner Ehefrau Dora und der „russischen
Revolutionärin aus Riga“Asja Lacis – häufig ebenfalls Gegenstand
posthumer Fraktionsbildung in eroticis –, aber auch durch die
George-Schülerin Jula Cohn oder durch Gretel Adorno.
Und zum ersten Mal werden düstere Seiten beim Namen genannt, so die
Spielsucht, die nicht unbeteiligt war an Benjamins prekärer finanzieller
Lage. Da wundert man sich allerdings über Eilands und Jennings’ Neigung
zur Apologie, mit der sie auch für krude Verhaltensweisen allzu
dialektische Interpretationen finden; übersehen wird schnell, welche
lebensgeschichtlichen Entscheidungen hier aufeinanderstießen. Scholems
Distanz zu seinem Freund wäre ihm weniger vorzuwerfen, wenn man sich
klarmachte, dass in seiner Sicht Benjamin beim Roulette zumindest einen
Teil jenes Stipendiums verspielte, das die junge Hebräische Universität
in Jerusalem ihm aus Spendengeldern ausgesetzt hatte.
Trotz dieser beeindruckenden Forschungsleistung sind Einwände aber
unvermeidlich. In ihrem Bemühen, die Einheit und Konsequenz von
Benjamins Schaffen herauszuarbeiten, neigen die Autoren zuweilen dazu,
auch das Unvereinbare zu vereinbaren. Das geht besonders zu Lasten des
frühen Werks. Gegenüber den Perspektiven des „jüdischen“und des
„materialistischen“Benjamin, des Kafka-, Brecht- oder Baudelaire-Lesers,
ist jahrzehntelang eine andere recht unbeleuchtet geblieben: die des
„deutschen“Benjamin. Daran hat sich auch bei Eiland und Jennings wenig
geändert; sie betrachten den Einfluss von Hölderlin und besonders von
Stefan George eher als Jugendphänomen – ganz abgesehen davon, dass etwa
die simple Zurechnung Georges zum „Nationalismus“und die lehrerhafte
Benotung seiner Hölderlin-Rezeption als „Fehlinterpretation“der
komplizierten Sache schwerlich gerecht wird.
Benjamin bekannte noch im Mai 1940, in seinem vorletzten Brief an
Adorno, die Namen George und Hofmannsthal berührten einen Bereich, „in
dem ich mich ganz zu Hause fühle“: Man würde mehr verstehen von seinem
Einzelgängertum, von seinem hermetischen Materialismus, von seiner
Distanziertheit, aber auch umgekehrt von seiner bewundernden Faszination
durch den betont distanzlosen Brecht, wenn man die trotz aller Kritik
lebenslange Prägung durch ein traditionsbewusstes, ja elitäres
Verständnis von Poesie und Literatur in den Blick nähme. Politisch hatte
Benjamin mit George nichts zu tun, sehr viel jedoch mit seiner
„Haltung“, welche „die essentielle Einsamkeit eines Menschen in unser
Blickfeld rückt“.
Paraphrasen statt erhellender Interpretationen der Texte
Dieser Satz aus dem späten Brief an Adorno klingt fast wie einer aus der
metaphysischen Frühzeit, und dort zeigt sich besonders deutlich ein
weiteres Problem dieser Biographie. Vollkommen zu Recht setzen Eiland
und Jennings voraus, dass zur Lebensgeschichte eines Autors sein Denken
und Schreiben unabtrennbar dazugehören, und ein Großteil ihres Buches
ist denn auch dem ausführlichen Referat über Benjamins Werke gewidmet.
Die von Eiland und Jennings gewählte Form allerdings überzeugt nur
selten. Indem sie sich durch die besprochenen Texte gleichsam
hindurchzitieren und -paraphrasieren, und zwar unter weitestgehender
Beibehaltung von Benjamins eigener und eigentümlicher Terminologie,
entsteht am Ende etwas wie deren komprimierte Kurzform – die unmöglich
ist und allzu oft auch nahezu unverständlich. Nimmt man beispielsweise
die Passage über Benjamins KarlKraus-Essay – Stein des Anstoßes für
Benjamins „marxistische Wende“–, so wird genau das verfehlt, was hier
eigentlich gefordert wäre: einsichtig zu machen, worin der Essay
tatsächlich „hochkarätig“ist und was er dabei über Benjamin verrät.
Ähnliches gilt für Kafka, Proust, Baudelaire: Dem zitatreichen Referat
fehlt die interpretatorische Konsequenz, nämlich die Frage, was
eigentlich Benjamins theoretische Interessen an diese Autoren band.
Streckenweise sogar ärgerlich werden jene Kapitel, die sich mit
Benjamins späten Jahren, der Arbeit am „PassagenWerk“, am „Baudelaire“,
widmen und dabei der Kooperation mit dem nach Amerika emigrierten
Institut für Sozialforschung. Hier fallen die Autoren zurück in jene
Ressentiments, die eine solche Biographie doch endlich überwinden
sollte. Die auch sonst fast prinzipiell apologetische Haltung gegenüber
Kritikern führt zu einer Darstellung, die den überlieferten Dokumenten
nicht entspricht. Offenbar halten es die Autoren für ausgeschlossen,
dass es zwischen Intellektuellen wie Benjamin, Adorno und Scholem
theoretische Diskussionen geben konnte, die auch sehr kontroverse
Positionen zuließen.
Natürlich war Benjamin im November 1938, in seiner extrem bedrückenden
Exil-Situation, durch Adornos massive Kritik an dem ersten
Baudelaire-Aufsatz schwer getroffen; das aber ändert nichts daran, dass
eine solche Kritik denkbar und auch berechtigt war. Wenn Eiland und
Jennings die Diskussionen zwischen Benjamin und Adorno immer wieder
unter Begriffe wie „Zensur“oder „unglaubliche Einmischung“fassen, dann
verkleinern sie Benjamins Position zu einer passiven Opferrolle und
verkennen gründlich den Charakter des Instituts – das eben keine
„neutrale“Universität war, sondern eine kleine Forschungseinrichtung mit
sehr klar formulierten theoretischen und politischen Interessen.
Zudem werden die Autoren hier tatsächlich unaufrichtig. Dass ihre
besondere Sympathie Brecht gilt, ist legitim. Aber während Adornos
detaillierte Kritik am „Baudelaire“für sie nur ein empörender Übergriff
ist, wird Brechts viel gröberes Urteil bewusst schöngefärbt. Der
berühmte Eintrag in seinem „Arbeitsjournal“wird zwar angeführt, doch das
Zitat bricht ab und unterschlägt den summarischen Schluss: „In solcher
Form wird die materialistische Geschichtsauffassung adaptiert! Es ist
ziemlich grauenhaft.“Und man fragt sich, wem damit gedient ist, wenn
diese für Benjamin so wichtigen Beziehungen nach eigenem Gusto in die
eine Richtung verdunkelt werden, dagegen in die andere ganz offenkundig
aufgehübscht.
Das sind keine leicht wiegenden Mängel. Und sie sind bedauerlich, weil
die Darstellung auch große Qualitäten besitzt. Gerade die Epoche des
Pariser Exils bekommt hier eine so konkrete, materialreiche Darstellung,
wie man sie noch nicht kannte. Der harte Existenzkampf um Publikationen,
Stipendien, Wohnungen, die Rückschläge, Erschöpfungen, all das ist der
dunkle Fond, auf dem die faszinierend schillernden Fragmente über die
„Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“sich abzeichnen. Sehr viel an
Benjamins Leben hat sich selbst schon verwandelt in mythische Bilder,
und der Flaneur in Paris ist eines der stärksten. Gerade der
biographische Zugang bewirkt eine harte, nüchterne und notwendige
Korrektur. Wer die entsprechenden Kapitel bei Eiland und Jennings liest,
der sieht keinen Flaneur, der sieht einen verarmten und bedrohten
Intellektuellen im Exil, dem nichts mehr sicher ist, was einmal das
geistige und materielle Zuhause seines Lebens war. Hier, in dieser
lebensgeschichtlichen Entmythologisierung einer rätselhaften
Jahrhundertfigur, liegt der eigentliche Gewinn dieser Biographie.
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