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</head>
<body>
<ul class="art-meta">
<li><span class="art-rank-0"></span><br>
</li>
<li>13 Nov 2020</li>
<li>Frankfurter Allgemeine Zeitung</li>
<li>WOLFGANG MATZ</li>
</ul>
<h1>Ein Philosoph spielt Roulette<a class="button b-translate b-exp"><span></span></a><span
class="slider"><span></span></span></h1>
<div class="clear">
<div class="art-layout-a-2x" id="testArtCol_a">
<h2>Lange erwartet und nun auch auf Deutsch: Howard Eilands und
Michael W. Jennings’ umfassende Biographie Walter Benjamins
wird für lange Zeit Standard bleiben. Doch gravierende Mängel
schließt das nicht aus.</h2>
<p>
Beim melancholischen Blick auf seine Schriften fand Walter
Benjamin schon im Juli 1932 nur noch eine „Trümmer- und
Katastrophenstätte, von der ich keine Grenze absehen kann,
wenn ich das Auge über meine nächsten Jahre schweifen lasse“.
Behielt er auch recht mit seiner Prophezeiung, so hätte er
eines doch nie zu erwarten gewagt: die Wiederentdeckung nach
der Weltkatastrophe und die weltweite Wirkung eines Korpus von
Texten, der nicht nur äußerlich so fragmentarisch, rätselhaft,
ja widersprüchlich ist, dass er sich im Grunde gegen eine
solche Wirkung massiv sperrt. Und man fragt sich, ob diese
Wirkung überhaupt je zustande gekommen wäre ohne den
jahrzehntelangen Einsatz seiner Freunde Gershom Scholem und
Theodor W. Adorno, denen sich die posthume
Publikationsgeschichte verdankt. Wenig spricht dafür, dass
ohne sie ein Werk Eingang in den philosophischen Kanon des
zwanzigsten Jahrhunderts gefunden hätte, das neben zahllosen
Aufsätzen und Rezensionen Bücher über so spezielle Themen </p>
<span class="art-object art-mainimage" id="artObjectWrap"
style="height: 36.8em;"><a><img
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id="artObject" width="647" height="459"><em>Foto Akademie
der Künste, Berlin/ Bertolt-Brecht-Archiv </em></a></span><span
class="art-imagetext">Bertolt Brecht und Benjamin 1934 beim
Schachspiel in Brechts Garten am Skovsbostrand in Dänemark</span>
<p>
wie die Kunstkritik in der deutschen Romantik und das barocke
Trauerspiel umfasst, zu schweigen von dem gigantischen
Material- und Aufzeichnungsarchiv des unvollendeten Projekts
über „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“. </p>
<p>
In dem längst uferlosen Schrifttum über Benjamin gab es sehr
lange eine auffällige Leerstelle: die fehlende umfassende
Biographie zu Leben und Werk. Geschlossen wurde sie 2014 mit
dem Buch von Howard Eiland und Michael W. Jennings, Benjamins
amerikanische Herausgeber und Übersetzer, das nun auch auf
Deutsch erschienen ist. Fragt man nach den Forderungen, die
heute an eine solche Monographie zu stellen sind, muss man
noch einmal zurückgehen auf die Werk- und
Publikationsgeschichte. Benjamins intellektuelle Existenz,
soweit sie in Texten nachlesbar ist, umfasst die drei
Jahrzehnte zwischen 1910 und 1940, die Krisen- und
Katastrophenjahre Europas und der Welt. Die literarische und
philosophische Spannweite reicht dabei von Stefan George und
Hölderlin bis zu Bertolt Brecht und Erich Kästner, von Marcel
Proust und Julien Green bis zum Surrealismus und zur
russischen Avantgarde, von der jüdischen Mystik bis zu Marx.
Ende der zwanziger Jahre etwa arbeitete er an zwei
Lexikonartikeln: Für die „Encyclopaedia Judaica“schrieb er
über „Juden in der deutschen Kultur“, für die „Große
Sowjet-Enzyklopädie“über Goethe. Dass beide Auftraggeber, die
wohl kein anderer zugleich gehabt haben dürfte, Benjamins
Texte nur vollkommen umgearbeitet und laut Benjamin „von allem
Wesentlichen gereinigt“druckten, verwundert kaum, ist aber
sprechendes Beispiel für seine schwindelerregende und kaum
haltbare Position in den damaligen Zeitläuften. </p>
<p>
Der Kampf der Nachwelt um den „wahren Benjamin“ </p>
<p>
Zu Benjamins Lebzeiten äußerte sich diese zuweilen bizarre
Konstellation in der eifersüchtigen Konkurrenz unter seinen
Freunden und Gesprächspartnern: Hugo von Hofmannsthal wurde
nur selektiv mit Lektüre versorgt, der Zionist Scholem legte
den Finger auf jede dialektische Verrenkung seines Freundes,
Asja Lacis verhinderte mit allen Mitteln die Reise ihres
Verehrers nach Palästina, Adorno registrierte entsetzt den
Einfluss von Brechts rabulistischem Materialismus, dieser
nährte sein antiintellektuelles Ressentiment beim Blättern in
der „Zeitschrift für Sozialforschung“, und Max Rychner, einer
der wenigen liberalen Publizisten in Benjamins Bekanntenkreis,
schwankte zwischen Kopfschütteln und Bewunderung. Der
Betroffene selbst reagierte mit Diplomatie, Schweigen,
Verstellung, oder eben mit jenem „bluff pur et simple“, den
der ebenfalls eifersüchtige Werner Kraft beklagte. </p>
<p>
Die Nachwelt spaltete sich konsequent in Fraktionen, welche
die direkt Beteiligten an Eifersucht und Konkurrenz bald noch
übertrafen. Besonders die Stilisierung Benjamins zu einem
marxistischen oder materialistischen Klassiker musste sich
gewaltsam absetzen von den Interpretationen durch Scholem und
Adorno – so verschieden diese beiden schon waren. Die Polemik
um die Nachlasseditionen wirkt im Rückblick absurd, aber sie
unterfütterte ständig von neuem den Verdacht, irgendwer hätte
immer gerade den „wahren“Benjamin verfälscht oder seine
„marxistische Wendung“unterdrücken wollen. Ganze Regalmeter an
Benjamin-Deutung leiden bis heute an diesen Schismen, und vor
allem auch die ersten Biographien von Werner Fuld und Momme
Brodersen sind inzwischen in weiten Teilen fast unbrauchbar
durch ihre Parteinahmen in einem fiktiven, längst historisch
gewordenen Grabenkampf. </p>
<p>
Ein widersprüchliches Werk wird tendenziell vereinheitlicht </p>
<p>
Fragt man also, was die lang erhoffte Benjamin-Biographie
heute zu leisten hat, so ist es vor allem die Ablösung von
diesen unfruchtbaren Traditionen. Die große Ausgabe der
„Gesammelten Briefe“, die noch nicht abgeschlossene kritische
Neuedition der Werke bilden eine Basis, die frühere Biographen
noch nicht besaßen. Dem Zerfall der Ideologien nach der
Epochenschwelle 1989 verdanken wir darüber hinaus Zugänge zu
Benjamins Werk, in denen Vielfalt und Widersprüchlichkeit
wichtiger sind als die reine Lehre. Nicht weniger als die
Summe aus diesen Quellen war lange überfällig. </p>
<p>
Howard Eiland und Michael W. Jennings war diese Forderung
bewusst, und das rechtfertigt den enormen Umfang ihrer
Monographie. Und vorweg: Das Buch übertrifft alle bisherigen
Biographien bei weitem und wird für lange Zeit Standard
bleiben. Denn trotz mancher Einwände, die anzubringen sind,
leistet es zunächst das Wesentliche: Es umfasst den ganzen
Benjamin, nutzt alle vorhandenen Quellen, gibt der
persönlichen Entwicklung so viel Gewicht wie der
intellektuellen. Besonders im persönlichen Lebensbereich ist
mehr zu erfahren denn je: Eiland und Jennings erzählen nicht
nur die Familiengeschichte, sie würdigen den prägenden
Einfluss seiner Ehefrau Dora und der „russischen
Revolutionärin aus Riga“Asja Lacis – häufig ebenfalls
Gegenstand posthumer Fraktionsbildung in eroticis –, aber auch
durch die George-Schülerin Jula Cohn oder durch Gretel Adorno.
</p>
</div>
<div class="art-layout-b-2x" id="testArtCol_b">
<p> Und zum ersten Mal werden düstere Seiten beim Namen genannt,
so die Spielsucht, die nicht unbeteiligt war an Benjamins
prekärer finanzieller Lage. Da wundert man sich allerdings
über Eilands und Jennings’ Neigung zur Apologie, mit der sie
auch für krude Verhaltensweisen allzu dialektische
Interpretationen finden; übersehen wird schnell, welche
lebensgeschichtlichen Entscheidungen hier aufeinanderstießen.
Scholems Distanz zu seinem Freund wäre ihm weniger
vorzuwerfen, wenn man sich klarmachte, dass in seiner Sicht
Benjamin beim Roulette zumindest einen Teil jenes Stipendiums
verspielte, das die junge Hebräische Universität in Jerusalem
ihm aus Spendengeldern ausgesetzt hatte. </p>
<p> Trotz dieser beeindruckenden Forschungsleistung sind
Einwände aber unvermeidlich. In ihrem Bemühen, die Einheit und
Konsequenz von Benjamins Schaffen herauszuarbeiten, neigen die
Autoren zuweilen dazu, auch das Unvereinbare zu vereinbaren.
Das geht besonders zu Lasten des frühen Werks. Gegenüber den
Perspektiven des „jüdischen“und des
„materialistischen“Benjamin, des Kafka-, Brecht- oder
Baudelaire-Lesers, ist jahrzehntelang eine andere recht
unbeleuchtet geblieben: die des „deutschen“Benjamin. Daran hat
sich auch bei Eiland und Jennings wenig geändert; sie
betrachten den Einfluss von Hölderlin und besonders von Stefan
George eher als Jugendphänomen – ganz abgesehen davon, dass
etwa die simple Zurechnung Georges zum „Nationalismus“und die
lehrerhafte Benotung seiner Hölderlin-Rezeption als
„Fehlinterpretation“der komplizierten Sache schwerlich gerecht
wird. </p>
<p> Benjamin bekannte noch im Mai 1940, in seinem vorletzten
Brief an Adorno, die Namen George und Hofmannsthal berührten
einen Bereich, „in dem ich mich ganz zu Hause fühle“: Man
würde mehr verstehen von seinem Einzelgängertum, von seinem
hermetischen Materialismus, von seiner Distanziertheit, aber
auch umgekehrt von seiner bewundernden Faszination durch den
betont distanzlosen Brecht, wenn man die trotz aller Kritik
lebenslange Prägung durch ein traditionsbewusstes, ja elitäres
Verständnis von Poesie und Literatur in den Blick nähme.
Politisch hatte Benjamin mit George nichts zu tun, sehr viel
jedoch mit seiner „Haltung“, welche „die essentielle
Einsamkeit eines Menschen in unser Blickfeld rückt“. </p>
<p> Paraphrasen statt erhellender Interpretationen der Texte </p>
<p> Dieser Satz aus dem späten Brief an Adorno klingt fast wie
einer aus der metaphysischen Frühzeit, und dort zeigt sich
besonders deutlich ein weiteres Problem dieser Biographie.
Vollkommen zu Recht setzen Eiland und Jennings voraus, dass
zur Lebensgeschichte eines Autors sein Denken und Schreiben
unabtrennbar dazugehören, und ein Großteil ihres Buches ist
denn auch dem ausführlichen Referat über Benjamins Werke
gewidmet. Die von Eiland und Jennings gewählte Form allerdings
überzeugt nur selten. Indem sie sich durch die besprochenen
Texte gleichsam hindurchzitieren und -paraphrasieren, und zwar
unter weitestgehender Beibehaltung von Benjamins eigener und
eigentümlicher Terminologie, entsteht am Ende etwas wie deren
komprimierte Kurzform – die unmöglich ist und allzu oft auch
nahezu unverständlich. Nimmt man beispielsweise die Passage
über Benjamins KarlKraus-Essay – Stein des Anstoßes für
Benjamins „marxistische Wende“–, so wird genau das verfehlt,
was hier eigentlich gefordert wäre: einsichtig zu machen,
worin der Essay tatsächlich „hochkarätig“ist und was er dabei
über Benjamin verrät. Ähnliches gilt für Kafka, Proust,
Baudelaire: Dem zitatreichen Referat fehlt die
interpretatorische Konsequenz, nämlich die Frage, was
eigentlich Benjamins theoretische Interessen an diese Autoren
band. </p>
<p> Streckenweise sogar ärgerlich werden jene Kapitel, die sich
mit Benjamins späten Jahren, der Arbeit am „PassagenWerk“, am
„Baudelaire“, widmen und dabei der Kooperation mit dem nach
Amerika emigrierten Institut für Sozialforschung. Hier fallen
die Autoren zurück in jene Ressentiments, die eine solche
Biographie doch endlich überwinden sollte. Die auch sonst fast
prinzipiell apologetische Haltung gegenüber Kritikern führt zu
einer Darstellung, die den überlieferten Dokumenten nicht
entspricht. Offenbar halten es die Autoren für ausgeschlossen,
dass es zwischen Intellektuellen wie Benjamin, Adorno und
Scholem theoretische Diskussionen geben konnte, die auch sehr
kontroverse Positionen zuließen. </p>
<p> Natürlich war Benjamin im November 1938, in seiner extrem
bedrückenden Exil-Situation, durch Adornos massive Kritik an
dem ersten Baudelaire-Aufsatz schwer getroffen; das aber
ändert nichts daran, dass eine solche Kritik denkbar und auch
berechtigt war. Wenn Eiland und Jennings die Diskussionen
zwischen Benjamin und Adorno immer wieder unter Begriffe wie
„Zensur“oder „unglaubliche Einmischung“fassen, dann
verkleinern sie Benjamins Position zu einer passiven
Opferrolle und verkennen gründlich den Charakter des Instituts
– das eben keine „neutrale“Universität war, sondern eine
kleine Forschungseinrichtung mit sehr klar formulierten
theoretischen und politischen Interessen. </p>
<p> Zudem werden die Autoren hier tatsächlich unaufrichtig. Dass
ihre besondere Sympathie Brecht gilt, ist legitim. Aber
während Adornos detaillierte Kritik am „Baudelaire“für sie nur
ein empörender Übergriff ist, wird Brechts viel gröberes
Urteil bewusst schöngefärbt. Der berühmte Eintrag in seinem
„Arbeitsjournal“wird zwar angeführt, doch das Zitat bricht ab
und unterschlägt den summarischen Schluss: „In solcher Form
wird die materialistische Geschichtsauffassung adaptiert! Es
ist ziemlich grauenhaft.“Und man fragt sich, wem damit gedient
ist, wenn diese für Benjamin so wichtigen Beziehungen nach
eigenem Gusto in die eine Richtung verdunkelt werden, dagegen
in die andere ganz offenkundig aufgehübscht. </p>
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<p> Das sind keine leicht wiegenden Mängel. Und sie sind
bedauerlich, weil die Darstellung auch große Qualitäten
besitzt. Gerade die Epoche des Pariser Exils bekommt hier eine
so konkrete, materialreiche Darstellung, wie man sie noch
nicht kannte. Der harte Existenzkampf um Publikationen,
Stipendien, Wohnungen, die Rückschläge, Erschöpfungen, all das
ist der dunkle Fond, auf dem die faszinierend schillernden
Fragmente über die „Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“sich
abzeichnen. Sehr viel an Benjamins Leben hat sich selbst schon
verwandelt in mythische Bilder, und der Flaneur in Paris ist
eines der stärksten. Gerade der biographische Zugang bewirkt
eine harte, nüchterne und notwendige Korrektur. Wer die
entsprechenden Kapitel bei Eiland und Jennings liest, der
sieht keinen Flaneur, der sieht einen verarmten und bedrohten
Intellektuellen im Exil, dem nichts mehr sicher ist, was
einmal das geistige und materielle Zuhause seines Lebens war.
Hier, in dieser lebensgeschichtlichen Entmythologisierung
einer rätselhaften Jahrhundertfigur, liegt der eigentliche
Gewinn dieser Biographie.</p>
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