[D66] Paul Celans botanische Trittsiegel

R.O. jugg at ziggo.nl
Fri Nov 13 14:26:15 CET 2020


  * 13 Nov 2020
  * Frankfurter Allgemeine Zeitung
  * CLAUDIA SCHÜLKE


  Paul Celans botanische Trittsiegel


    Erinnerungsspuren: In seinem lyrischen Garten blühen Blumen, die in
    keiner botanischen Nomenklatur vorkommen

Martin Heidegger wunderte sich: Sein Gast kannte mehr Pflanzen als er. 
Kein Wunder, denn Paul Celan besaß Rudolf Kochs „Kleines 
Blumenbuch“(Insel Bücherei, 1933), in dem er neben den deutschen Namen 
auch die englischen, französischen, russischen und rumänischen Namen der 
jeweiligen Pflanzen notierte. Auch Heinrich Marzells „Wörterbuch der 
deutschen Pflanzennamen“(Hirzel Verlag, 1943) nutzte er gern. Als der 
Dichter am 25. Juli 1967 mit dem Philosophen durch den Schwarzwald 
streifte und in dessen Hütte bei Todtnauberg einkehrte, fielen ihm dort 
die Heilpflanzen auf, die er schon aus seiner Heimat kannte, der 
Bukowina, dem erst habsburgischen, dann rumänischen „Buchenland“der 
heutigen Ukraine. „Arnika, Augentrost . . .“– so beginnt sein Gedicht 
„Todtnauberg“, das er am 1. August 1967 in Frankfurt zu schreiben begann.

Der Augentrost, Euphrasia, die Pflanze der Freude, war ihm schon einmal 
aufgefallen. „Im Krieg, in der Moldau, war ich, mit zwei Eimern beladen, 
die ich, vor Mittag, in die kleine Stadt holen gehen sollte, um sie zur 
,Baustelle‘ zu bringen, diesem Augen-Trost begegnet“, schrieb er am 30. 
September 1962 an seine Frau. Der Augentrost als „Merkwort einer 
Erinnerungsspur“, mutmaßt heute Klaus Reichert, damals Celans 
Suhrkamp-Lektor, in seinem Erinnerungsbuch. Hat der Dichter gleichsam 
botanisch-lyrische Trittsiegel hinterlassen, denen Heidegger nicht zu 
folgen vermochte? Der Schwarzwald sollte, so dachte es sich Heidegger, 
heilsam wirken auf den Überlebenden der Shoa, denn erst im Januar 
desselben Jahres hatte Celan versucht, sich das Leben zu nehmen. Wie 
eine böse Ironie klingen da diese Heilpflanzen mit den Konnotationen 
Gift und Straflager, denn die Arnika ist ebenso giftig wie heilsam, 
janusköpfig wie der Philosoph, der zeitweise mit jenen gemeinsame Sache 
gemacht hatte, denen die Eltern des Dichters zum Opfer gefallen waren.

Die Pflanzen in Celans Gedichten spenden keinen Trost. Die 
Kulturlandschaft seiner Jugend ist verwüstet, und in seinem lyrischen 
Garten blühen Blumen, die in keiner botanischen Nomenklatur vorkommen. 
Etwa die „Niemandsrose“im „Psalm“. Sie hat einen „Griffel seelenhell“und 
einen „Staubfaden himmelswüst“. Was ist das für eine Rose, die einem 
„Niemand“entgegenblühen will? Wer ist überhaupt „Niemand“? Der 
unaussprechlich Ewige? In „Radix, Matrix“ heißt es: „Wurzel Abrahams, 
Wurzel Jesse. Niemandes / Wurzel – o / unser.“Soll die „Niemandsrose“, 
diese Rose aus dem „Wir“, in den Urnen Dantes Himmelsrose auslöschen? 
Entwächst sie kabbalistischem Humus? Ihre Kronblätter sind „rot / vom 
Purpurwort, das wir sangen / über o über / dem Dorn“. Hier verschwindet 
der Botaniker Celan hinter dem Dichter. Denn die Rose trägt Dornen nur 
in der Dichtung, in der botanischen Realität trägt sie Stacheln.

„Der Dorn / wirbt um die Wunde“, heißt es auch in der „Matière de 
Bretagne“. Diesmal sind es echte Dornen, umgebildet aus Blättern und 
Kurztrieben des Stechginsters, der zudem giftig ist bis zur Atemlähmung. 
„Ginsterlicht, gelb, die Hänge eitern gen Himmel“, so beginnt das 
Gedicht. Celans Pflanzen klagen den Himmel an. Davon spricht auch seine 
„Engführung“: „Wir / taten ein Schweigen darüber, / giftgestillt, groß, 
/ ein / grünes / Schweigen, ein Kelchblatt, es / hing ein Gedanke an 
Pflanzliches dran – / grün, ja, / unter hämischem / Himmel.“Einem 
Himmel, der latenten Schaden ausbrütet.

Grün war das Buchenland in Celans Erinnerung, weiß und gelb: „Espenbaum, 
dein Laub blickt weiß ins Dunkel. / Meiner Mutter Haar ward nimmer weiß. 
/ Löwenzahn, so grün ist die Ukraine. Meine blonde Mutter kam nicht 
heim.“Auch Pappeln und Schwarzerlen wachsen in Celans Gedichten wie an 
den Flüssen der Bukowina, jene Bäume, in die sich die Heliaden, Töchter 
des Sonnengottes, verwandelten, als sie am Eridanos um ihren toten 
Bruder Phaeton weinten. Als ihre Mutter die Mädchenkörper aus der Rinde 
befreien wollte, schieden sie Harz aus, auch sie – Pflanzen des 
Schmerzes, der bei Ovid noch zu Bernstein gerann. In Celans 
„Stimmen“aber heißt es: „Ein / Fruchtblatt, augengroß, tief / geritzt; 
es / harzt, will nicht / vernarben.“

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