[D66] [JD: 113] NATO Gipfel | FAZ

R.O. juggoto at gmail.com
Tue Jun 15 08:04:16 CEST 2021


  * 15 Jun 2021
  * Frankfurter Allgemeine Zeitung
  * Von Thomas Gutschker, Brüssel


  NATO sieht Russland und Terror als größte Bedrohungen

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    Biden betont Beistandsklausel / Merkel: Eigenes Dialogformat mit
    China entwickeln

T.G. BRÜSSEL. Die NATO stuft Russland und den Terrorismus als größte
„Bedrohungen“ihrer Sicherheit ein, während sie China als „systemische
Herausforderung“betrachtet. So haben es die dreißig Mitgliedstaaten in
der Abschlusserklärung ihres Gipfeltreffens am Montag in Brüssel
dargelegt. Sie warnten außerdem vor Angriffen auf ihre Computernetze und
Satelliten im Weltall. Dies könne erhebliche Schäden anrichten und als
„bewaffneter Angriff“gewertet werden, der den Bündnisfall auslöse. Die
Verbündeten würden dies „von Fall zu Fall“entscheiden.

/Foto Reuters /Zu Kompromissen bereit: Die Staats- und Regierungschefs
der NATO am Montag im Hauptquartier des Verteidigungsbündnisses in Brüssel

Der amerikanische Präsident Joe Biden gab bei seinem ersten NATO-Treffen
ein unzweideutiges Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft ab.
„Die NATO ist entscheidend wichtig für amerikanische Interessen“, sagte
Biden, als er im Hauptquartier der Allianz eintraf. Die Beistandsklausel
der Partner sei eine „heilige Verpflichtung“. Generalsekretär Jens
Stoltenberg sagte, die NATO schlage ein „neues Kapitel“auf – nach der
von Spannungen geprägten Ära Trump. Mit dieser Formulierung beginnt auch
das Kommuniqué.

Zu China, das erstmals in einem solchen Text vorkommt, heißt es darin:
„Die selbsterklärten Ambitionen Chinas und sein bestimmtes Auftreten
stellen systemische Herausforderungen der regelbasierten internationalen
Ordnung und in Gegenden dar, die für die Sicherheit der Allianz wichtig
sind.“Die NATO verpflichtet sich zu einem „konstruktiven Dialog“mit dem
Land, „wo das möglich ist“. Für diese austarierte Position hatte sich
nicht zuletzt Deutschland eingesetzt. Bundeskanzlerin Angela Merkel
machte sich nach dem Treffen dafür stark, dass die Allianz ein eigenes
Dialogformat mit China entwickelt.

Die Staats- und Regierungschefs erteilten Stoltenberg den Auftrag, bis
zum nächsten Treffen in einem Jahr ein neues strategisches Konzept
auszuarbeiten. Außerdem beschlossen sie Kernelemente einer „Nato
2030“genannten Reformagenda. Dazu gehören mehr politische Konsultationen
im Bündnis, der Ausbau von Partnerschaften und ein Beitrag des Militärs
zum Klimaschutz. Der Gemeinschaftshaushalt der Allianz soll nach einer
Bedarfsanalyse von 2023 an erhöht werden. Drei Jahre nach dem
Wutausbruch Donald Trumps gibt Joe Biden bei seinem ersten NATO-Treffen
ein eindeutiges Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft ab. Die
Verteidigungsallianz will ein neues Kapitel aufschlagen. Die gemeinsamen
Gegner sind Russland und China.

Heute werden wir ein neues Kapitel in den transatlantischen Beziehungen
aufschlagen.“So formulierte es Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg,
als er am Montagmorgen vor seinem Hauptquartier den ersten Aufschlag für
diesen Gipfeltag machte. Alles war ins Azurblau der Allianz getaucht:
die Kulisse vor dem Eingang und der Teppich, über den dann die Staats-
und Regierungschefs schritten, vorbei an einem Stück der Berliner Mauer
und einem geschmolzenen Stahlträger des eingestürzten World Trade
Centers, den Eckpfeilern der jüngeren BündnisGeschichte. Ja, sogar der
Himmel, von dem die Sonne brannte, passte zum NatoBlau. Ein neues
Kapitel – das war schon die wichtigste Botschaft dieses Tages in
Brüssel, des ersten Treffens der Staatsund Regierungschefs nach dem Ende
der Ära Trump.

Den vermisste niemand, wirklich niemand an diesem Tag. Der ein oder
andere machte das auch deutlich. „Mit Trump war es immer ein bisschen
ungelenk“, sagte zum Beispiel Mark Rutte, der Niederländer. „Mit Joe
Biden ist alles wieder natürlicher.“Xavier Bettel aus Luxemburg
formulierte es so: „‚America first‘ war bei Trump. ‚Together first‘ ist
bei Biden.“Man hätte auch gerne Justin Trudeau danach gefragt, den
kanadischen Premierminister, aber der lief wortlos an den Reportern
vorbei. Ebenso Emmanuel Macron, der die Allianz 2019 für
„hirntot“erklärt hatte und gewiss darauf angesprochen worden wäre.
Kanzlerin Angela Merkel sagte ein paar unverfängliche Dinge, ohne Fragen
zu beantworten. Joe Biden wählte als einziger einen anderen Eingang. Er
schlüpfte erst am Mittag, leicht verspätet, hinter der Eingangskulisse
hervor, um Stoltenberg offiziell die Hand zu schütteln.

Es war hier, in diesem Hauptquartier, wo Donald Trump die Allianz vor
drei Jahren in einen kollektiven Schockzustand versetzt hatte. An einem
Tag, den er morgens schon mit einem Wutausbruch über Deutschland und
Nord Stream 2 begonne


  NATO sieht Russland und Terror als größte Bedrohungen

n hatte, kaperte der damalige amerikanische Präsident eine Sitzung mit
der Ukraine und Georgien, um unvermittelt mit „gravierenden
Konsequenzen“zu drohen, wenn die Mitgliedstaaten nicht endlich mehr Geld
in ihre Verteidigung steckten. „Amerika kann auch seinen eigenen Weg
gehen“, so wurde Trump hernach zitiert. Viele Anwesende verstanden das
als Drohung, die Allianz zu verlassen, was der Präsident – wie später
herauskam – auch mehrmals intern mit seinen Beratern erörtert hatte.
Merkel besänftigte ihn seinerzeit wieder; öffentlich verkündete Trump,
dass die Verbündeten „mehr zahlen als jemals zuvor“. Aber der Schaden
war angerichtet und nicht wenige warfen die Frage auf, ob sich das
Bündnis davon wieder erholen werde.

Hat es, wie am Montag zu sehen war. Nach der Bedrohung von innen ist die
Bedrohung von außen wieder in den Mittelpunkt gerückt. Seitdem Russland
2014 die Krim annektiert und die Ostukraine destabilisiert hat, befindet
sich die Allianz in einem tiefgreifenden Transformationsprozess: weg von
Einsätzen außerhalb des Bündnisgebiets, zurück zur Sicherung und
Verteidigung des Bündnisgebiets. Diese Entwicklung hat Trump nicht
aufgehalten, auch wenn es immer wieder Fragen gab, wie er zu Wladimir
Putin stand. Sie hat sich in den vergangenen Jahren noch beschleunigt,
weil Moskau Dialogangebote des Westens – auch der Allianz – ausschlug
und stattdessen seine Konfrontation verschärfte. Das hat die Verbündeten
zusammengeschweißt.

Am Montag hielten sie nur eine gemeinsame Arbeitssitzung ab, zweieinhalb
Stunden. Das reicht, bei dreißig Chefs, darunter sechs Frauen, für fünf
Minuten pro Land. Eine echte Debatte kommt so nicht zustande. Das
Treffen sei „das Sahnehäubchen auf der Torte“, so formulierte es ein
Diplomat. Die Torte selbst ist über Wochen gebacken und verziert worden,
von dreißig Konditoren, in einem sehr komplexen Prozess. Genau genommen,
waren es die stellvertretenden Botschafter der Mitgliedstaaten. Sie
hatten die öffentlichen Erklärungen und das Schlusskommuniqué
auszuhandeln, in einem abhörsicheren, unterirdischen Raum, den sie den
„Bunker“nennen. Am Sonntagnachmittag kamen sie wieder ans Tageslicht und
meldeten Vollzug.

Mehr als vierzig Seiten ist der Text lang, 78 Absätze insgesamt. Für
alles, was die Allianz im nächsten Jahr und darüber hinaus tun wird,
bildet er nun die Grundlage. Jede Formulierung ist das Ergebnis eines
Kompromisses, der die Perspektiven aller Staaten berücksichtigt – denn
die Nato kann nur im Konsens entscheiden. So entsteht beim Aushandeln
ein gemeinsamer Blick auf die Welt, die Rolle der Nato und notwendige
Veränderungen. Das ist nie einfach, aber diesmal soll es einfacher
gewesen sein als beim vergangenen Mal, 2018 unter Trump. Damals war
lange um die Passagen zu Russland, zu Cyberangriffen und zur
Zusammenarbeit mit Georgien und der Ukraine – den „Mitgliedern in spe“–
gerungen worden, diesmal nicht.

Die „aggressiven Handlungen Russlands“werden, in klarer Sprache, als
„Bedrohung der euro-atlantischen Sicherheit“eingestuft. Russland stellt
damit, neben „Terrorismus in jeglicher Form“, die größte Gefahr für die
Allianz dar. Warum das so ist, wird in Passagen dargelegt, die viel
ausführlicher sind als vor drei Jahren und in denen alles vorkommt, was
die Nato beunruhigt – von Desinformationskampagnen über neue Kurz- und
Mittelstreckenraketen bis hin zum jüngsten Aufmarsch nahe der
ukrainischen Grenzen. Es bleibt zwar beim Angebot zum Dialog mit Moskau,
doch heißt es unmissverständlich: „Solange sich Russland nicht an
internationales Recht hält, an seine internationalen Verpflichtungen und
Verantwortung, kann es keine Rückkehr zum ‚business als usual‘ geben.“

Am längsten ist dieses Mal über die Passagen zu China verhandelt worden,
das im Kommuniqué vor drei Jahren nicht einmal vorkam und beim kurzen
Treffen der Regierungschefs Ende 2019 nur kurz erwähnt wurde – als Land
der „Herausforderungen und Gelegenheiten“. Jetzt sind Peking zwei
Absätze gewidmet, und die Sprache ist deutlich verschärft worden: „Die
selbsterklärten Ambitionen Chinas und sein bestimmtes Auftreten stellen
systemische Herausforderungen der regelbasierten internationalen Ordnung
und in Gegenden dar, die für die Sicherheit der Allianz wichtig sind.“

Das ist nicht mehr weit entfernt vom Begriff des „Systemrivalen“, den
die EU vor gut zwei Jahren geprägt hat. Die etwas vorsichtigere
Formulierung geht auch auf deutsche Bitten zurück. Berlin wollte
zweierlei vermeiden. Erstens, dass die Eindämmung Chinas zur
Bündnisaufgabe wird. Zweitens, dass die Nato sich in eine Konfrontation
wie mit Russland begibt. Im Ergebnis heißt es nun: „Die Nato erhält
einen konstruktiven Dialog mit China aufrecht, wo das möglich
ist.“Freilich gibt es dafür bisher keinerlei Strukturen – mit Russland
existiert immerhin ein gemeinsamer Rat, der freilich schon lange nicht
mehr getagt hat.

Als Warnung an Russland, China und weitere Länder sind die Passagen zu
neuen Bedrohungen im Cyberspace und im Weltraum zu lesen. Hier stellt
die Allianz klar, dass sie Attacken als „bewaffnete Angriffe“betrachten
„kann“, die den Bündnisfall gemäß Artikel 5 der Nordatlantikcharta
auslösen. Darüber entscheiden werde der NATO-Rat „von Fall zu Fall“. Für
Cyberangriffe ist das nicht neu, allerdings führen die Staaten eine neue
Figur ein: Es kommt nun nicht mehr auf einen großen Angriff an, sondern
auf die „kumulative Wirkung“. Das soll Akteure abschrecken, die mit
einzelnen Attacken bewusst unter einer gewissen Schwelle bleiben.

Neu ist, dass nun auch der Weltraum als Domäne der Kriegsführung fest in
der Strategie verankert wird. Angriffe aus dem All oder im All werden
als „eindeutige Herausforderung der euro-atlantischen
Sicherheit“klassifiziert. Ihre Wirkung auf moderne Gesellschaften könne
so schädlich sein wie ein konventioneller Angriff. Die Nato will so vor
allem vor Angriffen auf Satelliten abschrecken, militärische wie zivile.
Diese Passagen spiegeln – eingestufte – militärische Beschlüsse wider,
welche die Chefs am Montag ebenfalls formal getroffen haben.

Ein ausführlicher Teil des Kommuniqués befasst sich mit der Anpassung
der Allianz an neue Gefahren in der Weltunordnung. So bekam
Generalsekretär Stoltenberg den Auftrag, bis zum Gipfeltreffen in einem
Jahr – es soll in Spanien stattfinden –, ein neues strategisches Konzept
auszuarbeiten. Das derzeit noch gültige Konzept ist zehn Jahre alt und
erwähnt Russland noch als „Partner“, der Klimawandel kommt mit einem
Satz vor. Hier will die Nato nun deutlich höhere Ambitionen zeigen und
selbst einen Beitrag zum Ziel der Klimaneutralität im Jahr 2050 leisten.
Das wiederum ist Teil des sogenannten „Nato 2030“-Prozesses. Die
Mitgliedstaaten wollen, dass das Bündnis „politischer“wird und seine
Konsultationen vertieft. Es soll außerdem seine globalen Partnerschaften
ausbauen und eigene Kontakte zur „Tech-Community“knüpfen, die heute
nicht mehr primär von Rüstungskonzernen repräsentiert wird.

Diese „höhere Ambitionsniveau“soll sich auch in einem höheren
Gemeinschaftshaushalt für die NATO niederschlagen. Darum war lange
gerungen worden. Stoltenberg hatte für eine Verdoppelung des Budgets
geworben, doch Frankreich und einige andere Staaten stellten sich quer.
Sie setzten durch, dass es erst eine Bedarfsanalyse geben wird und die
Ressourcen erst ab 2023 „steigen“sollen, „wie es notwendig ist“.

Präsident Biden machte derweil auf seine eigene Weise deutlich, dass die
Ära Trump vorüber ist. Schon am Morgen traf er sich mit den
Regierungschefs der drei baltischen Staaten und versicherte sie seines
Rückhalts – was der Vorgänger noch von höheren Verteidigungsausgaben
abhängig gemacht hatte. Als Biden dann Stoltenberg begrüßte, sagte er,
die Nato sei „entscheidend wichtig“für sein Land. Ihr Bündnisversprechen
sei ihm „heilige Verpflichtung“.

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