[D66] [JD: 135] Der Permafrost in Alaska taut | NZZ

R.O. juggoto at gmail.com
Wed Jul 7 09:39:15 CEST 2021


  * 7 Jul 2021
  * Neue Zürcher Zeitung
  * DAVID SIGNER, FAIRBANKS Vladimir Romanovsky


  Der Permafrost in Alaska taut

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    Die Katastrophe durch den Klimawandel sei in der Arktis wohl nicht
    mehr abzuwenden, sagt der Geophysiker Vladimir Romanovsky

«In zwanzig Metern Tiefe erkennt man die langfristigen Trends. Wir
konnten zeigen, dass die Temperatur dort seit den achtziger Jahren um
etwa 3 Grad gestiegen ist.»

Im Inneren Alaskas gibt es einen Tunnel, der Jahrmillionen in die
Vergangenheit zurückführt. Er liegt etwa zwanzig Kilometer nördlich des
Städtchens Fairbanks, in einem militärischen Sperrgebiet, und heisst
*Permafrost-Tunnel*, weil er durch gefrorenen Boden führt. Je tiefer man
in den Stollen hinabsteigt, umso weiter zurück geht man in der Zeit, bis
ins Pleistozän. Das funktioniert, weil bei diesen unter der Erde
herrschenden Minustemperaturen alles konserviert wird. Nicht ganz alles
allerdings. Deshalb stinkt es im Stollen, als ob man sich im Innern
eines riesigen /Limburger Käses/ befände. Oder neben einem angetauten
Kadaver. Damit nicht zu viel auftaut, wird beständig kalte Luft in den
Tunnel gepumpt, so dass die Temperatur nicht über minus 7 Grad steigt.
Alles andere würde zerstören, was den Tunnel einmalig macht auf der Welt.

Limburger Käses/UNIVERSITY OF ALASKA FAIRBANKS /Der Permafrost-Tunnel
bietet Geophysikern, Erdgeschichtlern, Klimatologen, Ingenieuren und
Biologen einzigartige Einblicke.

Gary Larsen von der Armeeabteilung Cold Regions Research and Engineering
Laboratory, die den Tunnel kontrolliert, führt durch den Stollen. Er
sagt es so: «Wenn ich in Ohio einen Apfel wegwerfe, verrottet er. Hier
hingegen wird er tiefgekühlt und bleibt während Jahrtausenden
unverändert.» Die Zeit steht still. So kommt es, dass aus den
Stollenwänden gelegentlich ein Mammutzahn oder ein urzeitlicher Knochen
herausragt. Auch sieht man urzeitliche Vegetation, Käfer, Mücken,
Schmetterlinge, Muschelschalen und versteinerte Kleintiere.

Wiedererwachen der Bakterien

_Noch unheimlicher: Längst Totes kann wieder zum Leben erweckt werden,
zum Beispiel Bakterien. «Vor Jahren nahmen Wissenschafter hier Proben
von Eis, tauten es auf, betrachteten das geschmolzene Wasser unter dem
Mikroskop und entdeckten lebende Bakterien.» Zum Glück waren es
harmlose, die überall in Alaska vorkommen und an die sich der Mensch
längst gewöhnt hat. «Man wusste, dass Bakterien überwintern können. Aber
dass sie nach Jahrtausenden im Eis wieder zum Leben erwachen können, das
war neu», sagt Gary Larsen. Im Prinzip wäre es möglich, dass auch
hochgefährliche Bakterien wie zum Beispiel Anthrax aus dem geschmolzenen
Eis entweichen und immer noch tödlich sein können. Vor fünf Jahren kam
es in Sibirien zu einem Anthrax-Ausbruch, nachdem ein Rentier, das
vermutlich vor 75 Jahren am Anthrax-Bazillus gestorben war, wieder
aufgetaut worden war. 200 000 Rentiere und ein Kind kamen ums Leben.
Larsen sagt, dass so etwas auch hier passieren könne. _

*Der Permafrost-Tunnel wurde 1963 gebaut, aus militärischen Gründen. Es
war die Zeit des Kalten Krieges, und bekanntlich berühren sich Amerika
und Russland fast in Alaska. Deshalb ist Alaska bis heute hoch
militarisiert. Hinter dem Bau des Tunnels stand die Frage, ob der
gefrorene Boden Schutz vor Bomben bieten würde, ob so ein Tunnel also
als natürlicher Bunker dienen könnte. Es stellte sich jedoch bald
heraus, dass der Permafrost in Alaska recht uneinheitlich ist, und der
Tunnel wurde vom militärischen zum wissenschaftlichen Projekt. Der Armee
untersteht er allerdings immer noch. *

Mit der globalen Erwärmung hat die Instabilität des Permafrosts weiter
zugenommen. Er bietet keinen Schutz mehr, sondern ist zum Risikofaktor
geworden. Das merkt man schon, wenn man von Fairbanks zum Tunnel
hinausfährt. Die Strasse ist in gutem Zustand, doch wegen des teilweise
aufgetauten und abgesunkenen Permafrosts ist sie ganz bucklig geworden.

Die Folgen der Klimaerwärmung sieht man nicht nur, man riecht sie auch,
nicht nur im Inneren des Tunnels. In diesen Tagen wütet ein Waldbrand
nördlich von Fairbanks, auch am Eingang des Tunnels nimmt man den Rauch
wahr. Die Feuerwehr versucht schon gar nicht erst, das Feuer zu löschen,
das wäre ein hoffnungsloses Unterfangen.

Sie begnügt sich damit, es einzugrenzen. Glücklicherweise weht der Wind
Richtung Norden. _Im Moment ist es tagsüber 26 Grad warm, das sind
Spitzentemperaturen._ Aufgrund der generellen Temperaturerhöhung wird
der Torfboden, nicht nur in Alaska, sondern in der gesamten arktischen
Region, trockener und gerät leichter in Brand.

Vladimir Romanovsky ist eine internationale Koryphäe für Permafrost. Er
ist Professor für Geophysik an der Universität von Alaska in Fairbanks.
Zum Gespräch empfängt er nicht im Büro, er zieht es vor, in den Wald zu
gehen, um die Thematik anschaulich zu machen. «Nicht überall in Alaska
gibt es Permafrost, und nicht überall ist er gleich tief», sagt er.
Dort, wo es Permafrost gibt, ist die Oberfläche jetzt im Sommer
aufgetaut, im Winter wird sie wieder gefrieren. Anhand der Vegetation
erkennt er, wie der Boden beschaffen ist und wie er sich verändert.
Birken und Schwarzfichten deuten auf einen gefrorenen Untergrund.
Romanovsky weist auf Bäume, die schief in der Landschaft stehen, weil
der Frost taut. «Das gibt es erst etwa seit zehn Jahren hier», sagt er.
Er zeigt auch auf Absenkungen, Gräben und tiefe, kreisrunde Löcher im
Waldboden. Thermokarst nennt man diese Verformungen im Gefolge des
Auftauens.

Mehrere Teufelskreise

Das wirklich Gefährliche an diesem Prozess seien die Teufelskreise, die
in Gang gesetzt würden, sagt er. So wird der Boden durch die Waldbrände
zusätzlich aufgeheizt und aufgetaut, Treibhausgase werden freigesetzt,
und die Schneegebiete werden durch den Russ dunkel, was die
RückstrahlLimburger Käsesung vermindert. All dies erhöht das Risiko
weiterer Brände. Dieser sich selbst verstärkende Mechanismus wirkt auch
dort, wo Biomasse aufgetaut wird. Im Permafrost-Tunnel sieht man dicke
Schichten von gefrorenem Holz und Gras, das sogar zum Teil noch grünlich
ist. Beim Auftauen wird CO2 freigesetzt. Verschwände der ganze
Permafrost, würden nach Schätzungen der Experten etwa noch einmal halb
so viele Gase entweichen, wie sich bereits in der Atmosphäre befinden.

Manche Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von einem Tipping
Point, also dem Moment, in dem das ganze System kippt. «Das ist mir
etwas zu alarmistisch», sagt Romanovsky. «Ich spreche lieber von
Schwellen und von Irreversibilität.» _Kurz gesagt:Ab einer gewissen
Temperatur schmilzt der Permafrost, und ist dieser Prozess erst einmal
in Gang, lässt er sich nicht mehr umkehren. «Selbst wenn es dann wieder
massiv kälter würde, ginge es Jahrtausende, bis der aufgetaute Boden
wieder gefrieren würde», sagt er. _

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Sogar der Optimist erschrickt

Ist es nicht deprimierend, seit vierzig Jahren zu beobachten, wie es
immer schlimmer wird, unwiederbringlich? «Ich bin Optimist», sagt er.
«Tatsächlich können wir wenig ausrichten. Der Permafrost schwindet wegen
der globalen Erwärmung, und die internationalen Massnahmen dagegen sind
viel zu langsam. Auf lange Sicht werden sich die Menschen aber an die
neuen Umstände anpassen, das war schon immer so in der Evolution.
Allerdings werden die Menschen, die ohnehin schon in schwierigen
Umständen leben, also in den kältesten und in den heissesten Regionen
der Erde, am härtesten getroffen.»

Könnte die Erwärmung auch positive Effekte haben, indem zum Beispiel
Seewege eisfrei und schiffbar werden, der Abbau von Bodenschätzen
einfacher oder Landwirtschaft in vorher unwirtlichen Gebieten möglich
wird? «Vielleicht in ein paar Jahrhunderten», sagt Romanovsky, «wenn
alles aufgetaut sein wird. Zuerst aber wird es eine chaotische
Übergangszeit geben. Die Öffnung der Seewege und die Möglichkeit der
Ausbeutung von Bodenschätzen führen wahrscheinlich zu einer neuen
geopolitischen und militärischen Instabilität. Das Auftauen ist
unberechenbar und birgt Risiken wie zum Beispiel das Bersten des
Dieseltanks im nordsibirischen Norilsk vor einem Jahr.» Das Leck war
eine direkte Folge der Deformationen des Bodens aufgrund des
Tauprozesses. «Solche Katastrophen werden sich in den nächsten Jahren
häufen», sagt er.

Romanovsky kommt aus Russland. «Ich lehrte an der Universität von
Moskau, als alle meine Kollegen in die Ölindustrie abwanderten, weil die
Regierung für Forschung in Geophysik kaum noch Geld sprach», sagt er.
«Erst jetzt, wo auch die Ölindustrie betroffen ist, interessiert sich
die Regierung in Moskau wieder für uns. Ich wollte aber nicht in die
Rohstoffbranche. Da merkte ich, dass es für mich mit meinem Fach in
Russland keine Zukunft mehr gab.» Also ging er nach Fairbanks, wo er
bereits früher ein paar Monate geforscht hatte. Dort musste er
allerdings im Alter von 38 Jahren noch einmal von vorn anfangen und
wurde vom Professor wieder zum Studenten.

Später wurde er vor allem bekannt durch seine systematischen Bohrungen
im ganzen arktischen Gebiet, die es ermöglichen, genaue Aussagen über
die Geschichte des Eises im Laufe der Jahrtausende zu machen. «An der
Oberfläche gibt es viele kurzzeitige Temperaturausschläge», sagt er.
«Aber in zwanzig Metern Tiefe erkennt man die wirklich langfristigen
Trends. Wir konnten mit unseren Bohrungen zeigen, dass die Temperatur
dort seit den achtziger Jahren um etwa 3 Grad gestiegen ist. Offen
gestanden hat uns das erschreckt. Das ist mehr, als die meisten
Szenarien voraussagten. Das Klima war in den letzten 5000 Jahren noch
nie so warm wie heute.»

Inzwischen ist Romanovsky 68 Jahre alt, forscht aber noch immer weiter.
Dieses Jahr wird er nach China gehen. Zum Schluss lädt er zu einer Tour
in einen Vorort von Fairbanks ein. Dort sieht man bedenklich schief
stehende Häuser. «Ich beobachte die Gebäude seit zwanzig Jahren», sagt
er. «Es ist ein langsamer Prozess, aber wenn ich ein Bewohner wäre,
würde ich jetzt allmählich ausziehen.» Andere Häuser sind bereits
eingestürzt. Neubauten werden inzwischen auf Pfeilern erstellt. «Das hat
den Vorteil, dass der Erdboden nicht aufgeheizt und weich wird. Die Luft
kann unter dem Haus zirkulieren und den Boden kühlen», sagt er. «Aber
das ist oberflächliche Kosmetik. Die längerfristige Zerstörung des
Permafrosts geht trotzdem weiter.»

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