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<ul class="art-meta">
<li>7 Jul 2021</li>
<li>Neue Zürcher Zeitung</li>
<li>DAVID SIGNER, FAIRBANKS Vladimir Romanovsky</li>
</ul>
<h1>Der Permafrost in Alaska taut<a class="button b-translate b-exp"><span></span></a></h1>
<hr width="100%" size="2">
<p><br>
</p>
<div class="clear">
<div class="art-layout-a-2x" id="testArtCol_a">
<h2>Die Katastrophe durch den Klimawandel sei in der Arktis wohl
nicht mehr abzuwenden, sagt der Geophysiker Vladimir
Romanovsky</h2>
<p class="art-annotation">«In zwanzig Metern Tiefe erkennt man
die langfristigen Trends. Wir konnten zeigen, dass die
Temperatur dort seit den achtziger Jahren um etwa 3 Grad
gestiegen ist.»</p>
<p>
Im Inneren Alaskas gibt es einen Tunnel, der Jahrmillionen in
die Vergangenheit zurückführt. Er liegt etwa zwanzig Kilometer
nördlich des Städtchens Fairbanks, in einem militärischen
Sperrgebiet, und heisst <b>Permafrost-Tunnel</b>, weil er
durch gefrorenen Boden führt. Je tiefer man in den Stollen
hinabsteigt, umso weiter zurück geht man in der Zeit, bis ins
Pleistozän. Das funktioniert, weil bei diesen unter der Erde
herrschenden Minustemperaturen alles konserviert wird. Nicht
ganz alles allerdings. Deshalb stinkt es im Stollen, als ob
man sich im Innern eines riesigen <i>Limburger Käses</i>
befände. Oder neben einem angetauten Kadaver. Damit nicht zu
viel auftaut, wird beständig kalte Luft in den Tunnel gepumpt,
so dass die Temperatur nicht über minus 7 Grad steigt. Alles
andere würde zerstören, was den Tunnel einmalig macht auf der
Welt. </p>
<span class="art-object art-mainimage" id="artObjectWrap"
style="height: 30.4em;"><a><img
src="https://i.prcdn.co/img?regionguid=be68ad6b-108f-4d1a-8b56-a209d6b0bd61&scale=107&file=31192021070700000000001001®ionKey=Q92DmSdcUE3BADsGGjRm2g%3d%3d"
style="width:100%;" id="artObject"></a></span>Limburger
Käses<span class="art-object art-mainimage" id="artObjectWrap"
style="height: 30.4em;"><a><em>UNIVERSITY OF ALASKA FAIRBANKS
</em></a></span><span class="art-imagetext">Der
Permafrost-Tunnel bietet Geophysikern, Erdgeschichtlern,
Klimatologen, Ingenieuren und Biologen einzigartige Einblicke.</span>
<p>
Gary Larsen von der Armeeabteilung Cold Regions Research and
Engineering Laboratory, die den Tunnel kontrolliert, führt
durch den Stollen. Er sagt es so: «Wenn ich in Ohio einen
Apfel wegwerfe, verrottet er. Hier hingegen wird er
tiefgekühlt und bleibt während Jahrtausenden unverändert.» Die
Zeit steht still. So kommt es, dass aus den Stollenwänden
gelegentlich ein Mammutzahn oder ein urzeitlicher Knochen
herausragt. Auch sieht man urzeitliche Vegetation, Käfer,
Mücken, Schmetterlinge, Muschelschalen und versteinerte
Kleintiere. </p>
<p>
Wiedererwachen der Bakterien </p>
<p>
<u>Noch unheimlicher: Längst Totes kann wieder zum Leben
erweckt werden, zum Beispiel Bakterien. «Vor Jahren nahmen
Wissenschafter hier Proben von Eis, tauten es auf,
betrachteten das geschmolzene Wasser unter dem Mikroskop und
entdeckten lebende Bakterien.» Zum Glück waren es harmlose,
die überall in Alaska vorkommen und an die sich der Mensch
längst gewöhnt hat. «Man wusste, dass Bakterien überwintern
können. Aber dass sie nach Jahrtausenden im Eis wieder zum
Leben erwachen können, das war neu», sagt Gary Larsen. Im
Prinzip wäre es möglich, dass auch hochgefährliche Bakterien
wie zum Beispiel Anthrax aus dem geschmolzenen Eis
entweichen und immer noch tödlich sein können. Vor fünf
Jahren kam es in Sibirien zu einem Anthrax-Ausbruch, nachdem
ein Rentier, das vermutlich vor 75 Jahren am
Anthrax-Bazillus gestorben war, wieder aufgetaut worden war.
200 000 Rentiere und ein Kind kamen ums Leben. Larsen sagt,
dass so etwas auch hier passieren könne. </u></p>
<p>
<b>Der Permafrost-Tunnel wurde 1963 gebaut, aus militärischen
Gründen. Es war die Zeit des Kalten Krieges, und bekanntlich
berühren sich Amerika und Russland fast in Alaska. Deshalb
ist Alaska bis heute hoch militarisiert. Hinter dem Bau des
Tunnels stand die Frage, ob der gefrorene Boden Schutz vor
Bomben bieten würde, ob so ein Tunnel also als natürlicher
Bunker dienen könnte. Es stellte sich jedoch bald heraus,
dass der Permafrost in Alaska recht uneinheitlich ist, und
der Tunnel wurde vom militärischen zum wissenschaftlichen
Projekt. Der Armee untersteht er allerdings immer noch. </b></p>
<p>
Mit der globalen Erwärmung hat die Instabilität des
Permafrosts weiter zugenommen. Er bietet keinen Schutz mehr,
sondern ist zum Risikofaktor geworden. Das merkt man schon,
wenn man von Fairbanks zum Tunnel hinausfährt. Die Strasse ist
in gutem Zustand, doch wegen des teilweise aufgetauten und
abgesunkenen Permafrosts ist sie ganz bucklig geworden. </p>
<p>
Die Folgen der Klimaerwärmung sieht man nicht nur, man riecht
sie auch, nicht nur im Inneren des Tunnels. In diesen Tagen
wütet ein Waldbrand nördlich von Fairbanks, auch am Eingang
des Tunnels nimmt man den Rauch wahr. Die Feuerwehr versucht
schon gar nicht erst, das Feuer zu löschen, das wäre ein
hoffnungsloses Unterfangen. </p>
<p>
Sie begnügt sich damit, es einzugrenzen. Glücklicherweise weht
der Wind Richtung Norden. <u>Im Moment ist es tagsüber 26
Grad warm, das sind Spitzentemperaturen.</u> Aufgrund der
generellen Temperaturerhöhung wird der Torfboden, nicht nur in
Alaska, sondern in der gesamten arktischen Region, trockener
und gerät leichter in Brand. </p>
</div>
<div class="art-layout-b-2x" id="testArtCol_b">
<p>
Vladimir Romanovsky ist eine internationale Koryphäe für
Permafrost. Er ist Professor für Geophysik an der Universität
von Alaska in Fairbanks. Zum Gespräch empfängt er nicht im
Büro, er zieht es vor, in den Wald zu gehen, um die Thematik
anschaulich zu machen. «Nicht überall in Alaska gibt es
Permafrost, und nicht überall ist er gleich tief», sagt er.
Dort, wo es Permafrost gibt, ist die Oberfläche jetzt im
Sommer aufgetaut, im Winter wird sie wieder gefrieren. Anhand
der Vegetation erkennt er, wie der Boden beschaffen ist und
wie er sich verändert. Birken und Schwarzfichten deuten auf
einen gefrorenen Untergrund. Romanovsky weist auf Bäume, die
schief in der Landschaft stehen, weil der Frost taut. «Das
gibt es erst etwa seit zehn Jahren hier», sagt er. Er zeigt
auch auf Absenkungen, Gräben und tiefe, kreisrunde Löcher im
Waldboden. Thermokarst nennt man diese Verformungen im Gefolge
des Auftauens. </p>
<p> Mehrere Teufelskreise </p>
<p> Das wirklich Gefährliche an diesem Prozess seien die
Teufelskreise, die in Gang gesetzt würden, sagt er. So wird
der Boden durch die Waldbrände zusätzlich aufgeheizt und
aufgetaut, Treibhausgase werden freigesetzt, und die
Schneegebiete werden durch den Russ dunkel, was die RückstrahlLimburger
Käsesung vermindert. All dies erhöht das Risiko weiterer
Brände. Dieser sich selbst verstärkende Mechanismus wirkt auch
dort, wo Biomasse aufgetaut wird. Im Permafrost-Tunnel sieht
man dicke Schichten von gefrorenem Holz und Gras, das sogar
zum Teil noch grünlich ist. Beim Auftauen wird CO2
freigesetzt. Verschwände der ganze Permafrost, würden nach
Schätzungen der Experten etwa noch einmal halb so viele Gase
entweichen, wie sich bereits in der Atmosphäre befinden. <br>
</p>
<p>Manche Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von einem
Tipping Point, also dem Moment, in dem das ganze System kippt.
«Das ist mir etwas zu alarmistisch», sagt Romanovsky. «Ich
spreche lieber von Schwellen und von Irreversibilität.» <u>Kurz
gesagt:Ab einer gewissen Temperatur schmilzt der Permafrost,
und ist dieser Prozess erst einmal in Gang, lässt er sich
nicht mehr umkehren. «Selbst wenn es dann wieder massiv
kälter würde, ginge es Jahrtausende, bis der aufgetaute
Boden wieder gefrieren würde», sagt er. </u></p>
<u> </u>
<p> Sogar der Optimist erschrickt </p>
<p> Ist es nicht deprimierend, seit vierzig Jahren zu
beobachten, wie es immer schlimmer wird, unwiederbringlich?
«Ich bin Optimist», sagt er. «Tatsächlich können wir wenig
ausrichten. Der Permafrost schwindet wegen der globalen
Erwärmung, und die internationalen Massnahmen dagegen sind
viel zu langsam. Auf lange Sicht werden sich die Menschen aber
an die neuen Umstände anpassen, das war schon immer so in der
Evolution. Allerdings werden die Menschen, die ohnehin schon
in schwierigen Umständen leben, also in den kältesten und in
den heissesten Regionen der Erde, am härtesten getroffen.» </p>
<p> Könnte die Erwärmung auch positive Effekte haben, indem zum
Beispiel Seewege eisfrei und schiffbar werden, der Abbau von
Bodenschätzen einfacher oder Landwirtschaft in vorher
unwirtlichen Gebieten möglich wird? «Vielleicht in ein paar
Jahrhunderten», sagt Romanovsky, «wenn alles aufgetaut sein
wird. Zuerst aber wird es eine chaotische Übergangszeit geben.
Die Öffnung der Seewege und die Möglichkeit der Ausbeutung von
Bodenschätzen führen wahrscheinlich zu einer neuen
geopolitischen und militärischen Instabilität. Das Auftauen
ist unberechenbar und birgt Risiken wie zum Beispiel das
Bersten des Dieseltanks im nordsibirischen Norilsk vor einem
Jahr.» Das Leck war eine direkte Folge der Deformationen des
Bodens aufgrund des Tauprozesses. «Solche Katastrophen werden
sich in den nächsten Jahren häufen», sagt er. </p>
<p> Romanovsky kommt aus Russland. «Ich lehrte an der
Universität von Moskau, als alle meine Kollegen in die
Ölindustrie abwanderten, weil die Regierung für Forschung in
Geophysik kaum noch Geld sprach», sagt er. «Erst jetzt, wo
auch die Ölindustrie betroffen ist, interessiert sich die
Regierung in Moskau wieder für uns. Ich wollte aber nicht in
die Rohstoffbranche. Da merkte ich, dass es für mich mit
meinem Fach in Russland keine Zukunft mehr gab.» Also ging er
nach Fairbanks, wo er bereits früher ein paar Monate geforscht
hatte. Dort musste er allerdings im Alter von 38 Jahren noch
einmal von vorn anfangen und wurde vom Professor wieder zum
Studenten. </p>
<p> Später wurde er vor allem bekannt durch seine systematischen
Bohrungen im ganzen arktischen Gebiet, die es ermöglichen,
genaue Aussagen über die Geschichte des Eises im Laufe der
Jahrtausende zu machen. «An der Oberfläche gibt es viele
kurzzeitige Temperaturausschläge», sagt er. «Aber in zwanzig
Metern Tiefe erkennt man die wirklich langfristigen Trends.
Wir konnten mit unseren Bohrungen zeigen, dass die Temperatur
dort seit den achtziger Jahren um etwa 3 Grad gestiegen ist.
Offen gestanden hat uns das erschreckt. Das ist mehr, als die
meisten Szenarien voraussagten. Das Klima war in den letzten
5000 Jahren noch nie so warm wie heute.» </p>
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<p> Inzwischen ist Romanovsky 68 Jahre alt, forscht aber noch
immer weiter. Dieses Jahr wird er nach China gehen. Zum
Schluss lädt er zu einer Tour in einen Vorort von Fairbanks
ein. Dort sieht man bedenklich schief stehende Häuser. «Ich
beobachte die Gebäude seit zwanzig Jahren», sagt er. «Es ist
ein langsamer Prozess, aber wenn ich ein Bewohner wäre, würde
ich jetzt allmählich ausziehen.» Andere Häuser sind bereits
eingestürzt. Neubauten werden inzwischen auf Pfeilern
erstellt. «Das hat den Vorteil, dass der Erdboden nicht
aufgeheizt und weich wird. Die Luft kann unter dem Haus
zirkulieren und den Boden kühlen», sagt er. «Aber das ist
oberflächliche Kosmetik. Die längerfristige Zerstörung des
Permafrosts geht trotzdem weiter.» </p>
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