[D66] FAZ: Bilder ohne Eigenschaften

R.O. juggoto at gmail.com
Mon Jan 25 10:52:49 CET 2021


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  * 23 Jan 2021
  * Frankfurter Allgemeine Zeitung
  * BERND STIEGLER


  Bilder ohne Eigenschaften

Vermittler zwischen Kunst und Natur: Ulrike Meyer Stump studiert Karl 
Blossfeldts Pflanzenfotografien, Judith Elisabeth Weiss bettet deren 
Rezeption in eine zweihundertjährige Geschichte ein.

Neues von Blumen“betitelte Walter Benjamin 1928 seine Rezension von Karl 
Blossfeldts „Urformen der Kunst“und machte in dem Buch eine „Überprüfung 
des Wahrnehmungsinventars, die unser Weltbild noch unabsehbar verändern 
wird“, aus. Nun, fast ein Jahrhundert später, ist aus dem neuen Blick 
auf die Natur eine Allgegenwart von Blossfeldts Bildern zwischen 
Postkarte, Poster und Kaffeetasse geworden, und auch unser 
Wahrnehmungsinventar ist eines, das mit einem aus der Zeit der Weimarer 
Republik nur noch wenig gemein hat. Während Benjamin begeistert vom 
optisch Unbewussten sprach und eine andere Natur in den Bildern 
entdeckte, blicken wir heute auf sie aus historischer Ferne mit einem 
Blick, für den die Natur längst Geschichte und Kultur geworden ist.

/Foto L’Echo des cités, Schuiten and Peeters/CASTERMAN /François 
Schuiten und Benoît Peeters: „Die Vergessenen von Blossfeldtstadt“, 1994

Diesen Blick scharf zu stellen ist das Verdienst der beiden 
großangelegten und schön ausgestatteten Publikationen, die auf 
unterschiedliche Weise mittels der Bilder von Pflanzen solche der Natur 
und der Kunst zum Gegenstand machen. Während Ulrike Meyer Stump sich 
dabei auf Blossfeldt konzentriert und ebenso filigran wie materialreich 
eine Publikationsund Rezeptionsgeschichte seiner Pflanzenaufnahmen 
schreibt, greift Judith Elisabeth Weiss eher zum Weitwinkelobjektiv und 
lässt zwei Jahrhunderte der Geschichte vegetabiler Pflanzenvorlagen 
Revue passieren. Ihr Zugriff ist auch ungleich theoretischer. Das eine 
Buch wird ohne Zweifel zum Referenzwerk der Blossfeldt-Rezeption werden 
und schließt damit ein Kapitel; das andere hingegen eröffnet vielmehr 
Debatten über unsere Bilder von Natur. Die Bücher ergänzen einander wie 
zwei unterschiedliche Perspektiven auf einen Gegenstand.

Bemerkenswert ist dabei, dass sich in beiden Blossfeldts Fotografien als 
eigentümliche Vexierbilder erweisen, die zwischen Kunst und Natur hin 
und her pendeln. Bereits die Verwendungs- und Rezeptionsgeschichte von 
Blossfeldts Aufnahmen durchläuft Etappen, die miteinander wenig gemein 
haben und die auch den Fotografen überraschten. Während er mit „Urformen 
der Kunst“ein Studienund Musterbuch für Kunstgewerbestudenten im Sinn 
hatte, wurde das Buch rasch zu einem Klassiker der Moderne, der 
Abstraktion und des „Neuen Sehens“. Auch das Spektrum der 
Gebrauchsweisen seiner Bilder reicht von Vorlagen für die dekorative 
Kunst über ein „Bilderbuch für Erwachsene“der Neuen Sachlichkeit bis hin 
zu Verfahren der Abstraktion und der ornamentalen Gestaltung.

Dabei ist es keineswegs ausgemacht, dass die Natur der Kunst Vorbild 
steht; auch der umgekehrte Weg wird eingeschlagen, indem man in den 
Fotografien die Umsetzung mathematischer Gesetze, die Möglichkeit einer 
Einheit von Leben, Kunst und Technik oder aber einen formalen 
Universalismus erblickt. Die Fotografien sind so etwas wie 
Übersetzungsmedien zwischen Kunst und Kultur einerseits und Natur 
andererseits. Man kann dank ihnen zwischen diesen Reichen und Ordnungen 
munter hin und her wandern, und das in den unterschiedlichsten Spielformen.

Es ist, so Ulrike Meyer Stump, ihre Qualität, „Bilder ‚ohne 
Eigenschaften‘“zu sein, die ihre beispiellose Karriere ermöglicht hat. 
Was hat man nicht alles in ihnen gesehen? Urtypen im Sinne von Goethes 
Urpflanze, Vorbilder des vergleichenden Sehens, Tapetenmuster oder 
zeitlose formale Extrakte. Die Rezeptionsgeschichte von Blossfeldts 
Pflanzenaufnahmen liest sich deshalb wie eine Geschichte der Kunst der 
Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung der Frage nach der Beziehung 
zwischen Kunst und Natur.

Die andere Natur, die Walter Benjamin dereinst in den Aufnahmen 
erblickte, hat sich längst in eine Geschichte ihrer Vorstellungen und 
Modelle verwandelt. Die Deutung der Naturbilder als symbolische Formen, 
welche die „ästhetischen und wissenschaftlichen, politischen und 
technischen Disziplinierungen pflanzlichen Lebens offenbaren“, führt bei 
Weiss zu einer ebenso buntscheckigen wie anregenden Geschichte dessen, 
was Bilder aus Pflanzen im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte gemacht 
haben. Pflanzenbilder sind Geschichtsspeicher, die Modelle von Natur, 
Kultur und Kunst lesbar machen. Erneut erweisen sich Kunst, Fotografie 
und Bild gewordene Pflanzen als eine Art Brennglas der Kunst- und 
Kulturgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte. In diesen Bildern 
schlägt sich nicht nur die Kolonialgeschichte nieder, sondern – allein 
das Beispiel des Begriffs „Schmarotzer“zeigt es – mitunter auch die 
einer politischen Ideologie. Invasionsökologie, Konzepte von Symbiose, 
Synthese und Mischung und nicht zuletzt die Bionik und posthumane 
Ökologie sind weitere Etappen dieser Naturgeschichte, die in Bildern von 
Pflanzen Musterbilder der Kultur erkennt. Das Herbarium der Naturbilder 
entpuppt sich als Florilegium der Kulturkonzepte.

Einstmals hießen fotografische Vorlagen für Künstler „Studien nach der 
Natur“. Bereits im neunzehnten Jahrhundert gaben sie dabei diesem 
„nach“einen temporalen Sinn, verwandelten Natur in Kultur, setzten auf 
Artifizialisierung. Mittlerweile können wir längst von Bildern „nach der 
Kultur“sprechen, die andere Vorstellungen, Konzepte und Begriffe 
erfordern. „Biofakte“, „NatureCulture“oder „Nat/Cul“sind 
Begriffsungetüme, die eben jene Durchlässigkeit der Bereiche von Natur 
und Kultur, die sich bereits in Blossfeldts Pflanzenfotos und ihrer 
Rezeption finden, zu erfassen versuchen. „Am Garten“, so Judith 
Elisabeth Weiss, „lassen sich Krisensymptome der Gegenwart 
aufzeigen.“Und an den Bildern der dort wuchernden Pflanzen eine andere 
Natur, die längst Geschichte geworden ist, aber zu denken gibt.


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