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<ul class="art-meta">
<li><span class="art-rank-0"></span><br>
</li>
<li>23 Jan 2021</li>
<li>Frankfurter Allgemeine Zeitung</li>
<li>BERND STIEGLER</li>
</ul>
<h1>Bilder ohne Eigenschaften </h1>
Vermittler zwischen Kunst und Natur: Ulrike Meyer Stump studiert
Karl Blossfeldts Pflanzenfotografien, Judith Elisabeth Weiss bettet
deren Rezeption in eine zweihundertjährige Geschichte ein.
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<div class="art-layout-a-2x" id="testArtCol_a">
<p> Neues von Blumen“betitelte Walter Benjamin 1928 seine
Rezension von Karl Blossfeldts „Urformen der Kunst“und machte
in dem Buch eine „Überprüfung des Wahrnehmungsinventars, die
unser Weltbild noch unabsehbar verändern wird“, aus. Nun, fast
ein Jahrhundert später, ist aus dem neuen Blick auf die Natur
eine Allgegenwart von Blossfeldts Bildern zwischen Postkarte,
Poster und Kaffeetasse geworden, und auch unser
Wahrnehmungsinventar ist eines, das mit einem aus der Zeit der
Weimarer Republik nur noch wenig gemein hat. Während Benjamin
begeistert vom optisch Unbewussten sprach und eine andere
Natur in den Bildern entdeckte, blicken wir heute auf sie aus
historischer Ferne mit einem Blick, für den die Natur längst
Geschichte und Kultur geworden ist. </p>
<span class="art-object art-mainimage" id="artObjectWrap"
style="height: 64em;"><a><img
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id="artObject" width="622" height="866"><em>Foto L’Echo
des cités, Schuiten and Peeters/CASTERMAN </em></a></span><span
class="art-imagetext">François Schuiten und Benoît Peeters:
„Die Vergessenen von Blossfeldtstadt“, 1994</span>
<p> Diesen Blick scharf zu stellen ist das Verdienst der beiden
großangelegten und schön ausgestatteten Publikationen, die auf
unterschiedliche Weise mittels der Bilder von Pflanzen solche
der Natur und der Kunst zum Gegenstand machen. Während Ulrike
Meyer Stump sich dabei auf Blossfeldt konzentriert und ebenso
filigran wie materialreich eine Publikationsund
Rezeptionsgeschichte seiner Pflanzenaufnahmen schreibt, greift
Judith Elisabeth Weiss eher zum Weitwinkelobjektiv und lässt
zwei Jahrhunderte der Geschichte vegetabiler Pflanzenvorlagen
Revue passieren. Ihr Zugriff ist auch ungleich theoretischer.
Das eine Buch wird ohne Zweifel zum Referenzwerk der
Blossfeldt-Rezeption werden und schließt damit ein Kapitel;
das andere hingegen eröffnet vielmehr Debatten über unsere
Bilder von Natur. Die Bücher ergänzen einander wie zwei
unterschiedliche Perspektiven auf einen Gegenstand. </p>
</div>
<div class="art-layout-b-2x" id="testArtCol_b">
<p> Bemerkenswert ist dabei, dass sich in beiden Blossfeldts
Fotografien als eigentümliche Vexierbilder erweisen, die
zwischen Kunst und Natur hin und her pendeln. Bereits die
Verwendungs- und Rezeptionsgeschichte von Blossfeldts
Aufnahmen durchläuft Etappen, die miteinander wenig gemein
haben und die auch den Fotografen überraschten. Während er mit
„Urformen der Kunst“ein Studienund Musterbuch für
Kunstgewerbestudenten im Sinn hatte, wurde das Buch rasch zu
einem Klassiker der Moderne, der Abstraktion und des „Neuen
Sehens“. Auch das Spektrum der Gebrauchsweisen seiner Bilder
reicht von Vorlagen für die dekorative Kunst über ein
„Bilderbuch für Erwachsene“der Neuen Sachlichkeit bis hin zu
Verfahren der Abstraktion und der ornamentalen Gestaltung. </p>
<p> Dabei ist es keineswegs ausgemacht, dass die Natur der Kunst
Vorbild steht; auch der umgekehrte Weg wird eingeschlagen,
indem man in den Fotografien die Umsetzung mathematischer
Gesetze, die Möglichkeit einer Einheit von Leben, Kunst und
Technik oder aber einen formalen Universalismus erblickt. Die
Fotografien sind so etwas wie Übersetzungsmedien zwischen
Kunst und Kultur einerseits und Natur andererseits. Man kann
dank ihnen zwischen diesen Reichen und Ordnungen munter hin
und her wandern, und das in den unterschiedlichsten
Spielformen. </p>
<p> Es ist, so Ulrike Meyer Stump, ihre Qualität, „Bilder ‚ohne
Eigenschaften‘“zu sein, die ihre beispiellose Karriere
ermöglicht hat. Was hat man nicht alles in ihnen gesehen?
Urtypen im Sinne von Goethes Urpflanze, Vorbilder des
vergleichenden Sehens, Tapetenmuster oder zeitlose formale
Extrakte. Die Rezeptionsgeschichte von Blossfeldts
Pflanzenaufnahmen liest sich deshalb wie eine Geschichte der
Kunst der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung der
Frage nach der Beziehung zwischen Kunst und Natur. </p>
<p> Die andere Natur, die Walter Benjamin dereinst in den
Aufnahmen erblickte, hat sich längst in eine Geschichte ihrer
Vorstellungen und Modelle verwandelt. Die Deutung der
Naturbilder als symbolische Formen, welche die „ästhetischen
und wissenschaftlichen, politischen und technischen
Disziplinierungen pflanzlichen Lebens offenbaren“, führt bei
Weiss zu einer ebenso buntscheckigen wie anregenden Geschichte
dessen, was Bilder aus Pflanzen im Lauf der letzten zwei
Jahrhunderte gemacht haben. Pflanzenbilder sind
Geschichtsspeicher, die Modelle von Natur, Kultur und Kunst
lesbar machen. Erneut erweisen sich Kunst, Fotografie und Bild
gewordene Pflanzen als eine Art Brennglas der Kunst- und
Kulturgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte. In diesen
Bildern schlägt sich nicht nur die Kolonialgeschichte nieder,
sondern – allein das Beispiel des Begriffs „Schmarotzer“zeigt
es – mitunter auch die einer politischen Ideologie.
Invasionsökologie, Konzepte von Symbiose, Synthese und
Mischung und nicht zuletzt die Bionik und posthumane Ökologie
sind weitere Etappen dieser Naturgeschichte, die in Bildern
von Pflanzen Musterbilder der Kultur erkennt. Das Herbarium
der Naturbilder entpuppt sich als Florilegium der
Kulturkonzepte. </p>
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class="art-moreimages clear" id="artObject2"><a><img
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<p> Einstmals hießen fotografische Vorlagen für Künstler
„Studien nach der Natur“. Bereits im neunzehnten Jahrhundert
gaben sie dabei diesem „nach“einen temporalen Sinn,
verwandelten Natur in Kultur, setzten auf Artifizialisierung.
Mittlerweile können wir längst von Bildern „nach der
Kultur“sprechen, die andere Vorstellungen, Konzepte und
Begriffe erfordern. „Biofakte“, „NatureCulture“oder
„Nat/Cul“sind Begriffsungetüme, die eben jene Durchlässigkeit
der Bereiche von Natur und Kultur, die sich bereits in
Blossfeldts Pflanzenfotos und ihrer Rezeption finden, zu
erfassen versuchen. „Am Garten“, so Judith Elisabeth Weiss,
„lassen sich Krisensymptome der Gegenwart aufzeigen.“Und an
den Bildern der dort wuchernden Pflanzen eine andere Natur,
die längst Geschichte geworden ist, aber zu denken gibt.</p>
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