[D66] Frankreich: Chaos in der Krise

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Sat Sep 26 07:36:55 CEST 2020


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  * 26 Sep 2020
  * Frankfurter Allgemeine Zeitung
  * Von Michaela Wiegel, Paris


  Chaos in der Krise


    Frankreich erlebt einen massiven Anstieg der Corona-Zahlen: Die
    Regierung gerät unter Druck, in Marseille müssen nun Cafés und
    Restaurants schließen.

 From page 1 Auf den ungebremsten Anstieg der Neuinfektionen in 
Frankreich reagiert die Regierung in Paris mit einem chaotischen 
Krisenmanagement. Premierminister Jean Castex schloss einen neuen 
landesweiten Lockdown nicht aus, sollten die Infektionen weiter 
exponentiell steigen. Trotz neuer Beschränkungen wie 
Versammlungsverboten von mehr als zehn Personen im Freien in den 
Großstädten erreichte die Zahl der Neuinfektionen einen neuen Höchstwert 
von 16 096 Menschen, wie die staatliche Gesundheitsbehörde am 
Donnerstagabend meldete. Gesundheitsminister Olivier Véran wurde in 
Marseille erwartet, nachdem seine Ankündigungen die Stadt in Aufruhr 
versetzt hatten.

Die strikten Maßnahmen stoßen in der Mittelmeer-Metropole auf 
Unverständnis und Wut. Café- und Restaurantinhaber protestierten am 
Freitag für eine Aufhebung des Öffnungsverbots, das bereits an diesem 
Samstag in Kraft treten sollte. Da der zuständige Präfekt die 
entsprechende Verordnung nicht unterzeichnet hat, dürfen die Gaststätten 
noch bis Samstagabend um Mitternacht offen bleiben. Der Vorsitzende des 
lokalen Gaststättenverbandes, Bernard Marty, hielt der Regierung vor, 
die Ansteckungsgefahr einseitig in den Cafés und Restaurants zu 
verorten. Damit würden die Gaststättenbetreiber bestraft, die alle 
Hygieneund Abstandsregeln respektiert hätten. Das kurzfristige Verbot 
führe abermals dazu, dass frische Lebensmittel weggeworfen werden müssten.

Der rechtsbürgerliche Regionalratspräsident Renaud Muselier (LR) 
versuchte über eine einstweilige Verfügung, die Schließung der 
Gaststätten abzuwenden. In einem Meinungsbeitrag für die Regionalzeitung 
„La Provence“am Freitag forderten die grüne Bürgermeisterin von 
Marseille, Michèle Rubirola, die Vorsitzende der Metropole 
Aix-Marseille-Provence, Martine Vassal (LR), und Muselier, dass die 
Regierung ihr autoritäres Vorgehen überdenken müsse. „Sie können nicht 
allein entscheiden!“, schreiben sie. Die sozialistische 
Bezirksbürgermeisterin Samia Ghali kündigte an, dass die Kommunalpolizei 
Verstöße gegen das Öffnungsverbot nicht ahnden werde.

Auch der Mediziner Didier Raoult mischte sich in die Debatte ein. Der 
Leiter des Forschungsinstituts „Méditerranée Infection“warf in einem 
Brief dem Leiter der staatlichen Krankenhäuser AP-HM in Marseille vor, 
die Verantwortung für die „unvernünftigen Maßnahmen“zu tragen. Der 
Krankenhausleiter habe in Paris Alarm geschlagen, weil er seine 
Personalprobleme nicht in den Griff bekomme. „Seit dem 6. September hat 
sich die Zahl der Neuinfektionen in Marseille stabilisiert“, schreibt 
Raoult. Die Zahl der Covid-19-Intensivpatienten sei innerhalb der 
vergangenen Woche von 34 auf 38 gestiegen, fügte Raoult hinzu. 
Kompliziert sei die Situation nur deshalb, weil so wenig Intensivbetten 
zur Verfügung stünden.

Castex gab zu, dass es das vorrangige Ziel der Regierung sei, eine 
Überlastung der Krankenhäuser zu vermeiden. In Paris und in Marseille 
werden wieder nicht zwingend notwendige Operationen abgesagt. Trotz 
gegenteiliger Versprechen ist die Personalsituation gespannt. Die 
Regierung bezieht die niedergelassenen Ärzte und private Kliniken 
weiterhin kaum in das Krisenmanagement ein. Auch bei der Testkampagne 
ist die Regierung dabei, das Vertrauen der Franzosen zu verspielen. Bei 
einer Anhörung vor dem Senat gab Gesundheitsminister Véran Probleme bei 
der Auswertung der Tests zu. Wartezeiten von einer Woche sind inzwischen 
die Regel in den überlasteten Laboreinrichtungen. Die 
Auswertungsverzögerungen seien jedoch „nicht für die neue Welle der 
Epidemie“verantwortlich, behauptete Véran. Doch Ärzte beklagen, dass die 
Nachverfolgung von Kontaktpersonen aufgrund der Wartezeiten bei der 
Übermittlung der Testergebnisse nicht funktioniere. Deshalb könnten 
Ansteckungsketten nicht rechtzeitig unterbrochen werden. Auch die 
Corona-WarnApp hat sich als Flop erwiesen.

Premierminister Castex verteidigte am Donnerstagabend im Fernsehen seine 
Entscheidung, die Corona-Warn-App „Stop Covid“nicht herunterzuladen. 
„Ich will die Franzosen dazu bringen, die App herunterzuladen, aber ich 
habe es nicht getan. Voilà. Ich bin ehrlich zu Ihnen“, sagte Castex in 
der Fernsehsendung „Vous avez la parole“. Nur 2,3 Millionen Franzosen 
haben die Warn-App laut der jüngsten Zwischenbilanz heruntergeladen. 
Nach Recherchen der Organisation Anticor entstehen den Steuerzahlern 
Betriebskosten in Höhe von 300 000 Euro monatlich für die App, die seit 
der Inbetriebnahme vor drei Monaten knapp 200 Warnmeldungen versandt hat.

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