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<li>Article rank <span class="art-rank-0"></span></li>
<li>26 Sep 2020</li>
<li>Frankfurter Allgemeine Zeitung</li>
<li>Von Michaela Wiegel, Paris</li>
</ul>
<h1>Chaos in der Krise<a class="button b-translate b-exp"><span></span></a><span
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<div class="clear">
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<h2>Frankreich erlebt einen massiven Anstieg der Corona-Zahlen:
Die Regierung gerät unter Druck, in Marseille müssen nun Cafés
und Restaurants schließen.</h2>
<p> <a class="from">From page 1</a>
Auf den ungebremsten Anstieg der Neuinfektionen in Frankreich
reagiert die Regierung in Paris mit einem chaotischen
Krisenmanagement. Premierminister Jean Castex schloss einen
neuen landesweiten Lockdown nicht aus, sollten die Infektionen
weiter exponentiell steigen. Trotz neuer Beschränkungen wie
Versammlungsverboten von mehr als zehn Personen im Freien in
den Großstädten erreichte die Zahl der Neuinfektionen einen
neuen Höchstwert von 16 096 Menschen, wie die staatliche
Gesundheitsbehörde am Donnerstagabend meldete.
Gesundheitsminister Olivier Véran wurde in Marseille erwartet,
nachdem seine Ankündigungen die Stadt in Aufruhr versetzt
hatten. </p>
<p>
Die strikten Maßnahmen stoßen in der Mittelmeer-Metropole auf
Unverständnis und Wut. Café- und Restaurantinhaber
protestierten am Freitag für eine Aufhebung des
Öffnungsverbots, das bereits an diesem Samstag in Kraft treten
sollte. Da der zuständige Präfekt die entsprechende Verordnung
nicht unterzeichnet hat, dürfen die Gaststätten noch bis
Samstagabend um Mitternacht offen bleiben. Der Vorsitzende des
lokalen Gaststättenverbandes, Bernard Marty, hielt der
Regierung vor, die Ansteckungsgefahr einseitig in den Cafés
und Restaurants zu verorten. Damit würden die
Gaststättenbetreiber bestraft, die alle Hygieneund
Abstandsregeln respektiert hätten. Das kurzfristige Verbot
führe abermals dazu, dass frische Lebensmittel weggeworfen
werden müssten. </p>
<p>
Der rechtsbürgerliche Regionalratspräsident Renaud Muselier
(LR) versuchte über eine einstweilige Verfügung, die
Schließung der Gaststätten abzuwenden. In einem
Meinungsbeitrag für die Regionalzeitung „La Provence“am
Freitag forderten die grüne Bürgermeisterin von Marseille,
Michèle Rubirola, die Vorsitzende der Metropole
Aix-Marseille-Provence, Martine Vassal (LR), und Muselier,
dass die Regierung ihr autoritäres Vorgehen überdenken müsse.
„Sie können nicht allein entscheiden!“, schreiben sie. Die
sozialistische Bezirksbürgermeisterin Samia Ghali kündigte an,
dass die Kommunalpolizei Verstöße gegen das Öffnungsverbot
nicht ahnden werde. </p>
</div>
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<p> Auch der Mediziner Didier Raoult mischte sich in die Debatte
ein. Der Leiter des Forschungsinstituts „Méditerranée
Infection“warf in einem Brief dem Leiter der staatlichen
Krankenhäuser AP-HM in Marseille vor, die Verantwortung für
die „unvernünftigen Maßnahmen“zu tragen. Der Krankenhausleiter
habe in Paris Alarm geschlagen, weil er seine Personalprobleme
nicht in den Griff bekomme. „Seit dem 6. September hat sich
die Zahl der Neuinfektionen in Marseille stabilisiert“,
schreibt Raoult. Die Zahl der Covid-19-Intensivpatienten sei
innerhalb der vergangenen Woche von 34 auf 38 gestiegen, fügte
Raoult hinzu. Kompliziert sei die Situation nur deshalb, weil
so wenig Intensivbetten zur Verfügung stünden. </p>
<p> Castex gab zu, dass es das vorrangige Ziel der Regierung
sei, eine Überlastung der Krankenhäuser zu vermeiden. In Paris
und in Marseille werden wieder nicht zwingend notwendige
Operationen abgesagt. Trotz gegenteiliger Versprechen ist die
Personalsituation gespannt. Die Regierung bezieht die
niedergelassenen Ärzte und private Kliniken weiterhin kaum in
das Krisenmanagement ein. Auch bei der Testkampagne ist die
Regierung dabei, das Vertrauen der Franzosen zu verspielen.
Bei einer Anhörung vor dem Senat gab Gesundheitsminister Véran
Probleme bei der Auswertung der Tests zu. Wartezeiten von
einer Woche sind inzwischen die Regel in den überlasteten
Laboreinrichtungen. Die Auswertungsverzögerungen seien jedoch
„nicht für die neue Welle der Epidemie“verantwortlich,
behauptete Véran. Doch Ärzte beklagen, dass die Nachverfolgung
von Kontaktpersonen aufgrund der Wartezeiten bei der
Übermittlung der Testergebnisse nicht funktioniere. Deshalb
könnten Ansteckungsketten nicht rechtzeitig unterbrochen
werden. Auch die Corona-WarnApp hat sich als Flop erwiesen. </p>
<p> Premierminister Castex verteidigte am Donnerstagabend im
Fernsehen seine Entscheidung, die Corona-Warn-App „Stop
Covid“nicht herunterzuladen. „Ich will die Franzosen dazu
bringen, die App herunterzuladen, aber ich habe es nicht
getan. Voilà. Ich bin ehrlich zu Ihnen“, sagte Castex in der
Fernsehsendung „Vous avez la parole“. Nur 2,3 Millionen
Franzosen haben die Warn-App laut der jüngsten Zwischenbilanz
heruntergeladen. Nach Recherchen der Organisation Anticor
entstehen den Steuerzahlern Betriebskosten in Höhe von 300 000
Euro monatlich für die App, die seit der Inbetriebnahme vor
drei Monaten knapp 200 Warnmeldungen versandt hat. </p>
</div>
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