[D66] „Moria ist ein Mahnmal“

R.O. jugg at ziggo.nl
Mon Oct 5 05:42:35 CEST 2020


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  * 4 Oct 2020
  * Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
  * Die Fragen stellte Julia Schaaf.


  „Moria ist ein Mahnmal“

Der Schauspieler Trystan Pütter ist nach Lesbos gereist, um sich ein 
eigenes Bild von der Lage der Flüchtlinge zu machen. Hier spricht er 
über seine Eindrücke.

Herr Pütter, warum waren Sie vergangene Woche auf Lesbos? Dreharbeiten? 
Katastrophentourismus?

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/Foto Trystan Pütter /Natodraht und Geröll: „Das hat nichts mit 
Menschlichkeit zu tun“, sagt Pütter über das neue Flüchtlingslager auf 
Lesbos.

Das Wort „Katastrophentourismus“finde ich in diesem Zusammenhang 
zynisch. Die Lage auf Lesbos und den griechischen Inseln bewegt mich 
schon lange. Aber wenn ich auf dem Handy Nachrichten lese oder auf 
Instagram Bilder nach unten streiche, hat alles dieselbe ferne Qualität: 
Jemand macht Urlaub, ich sehe Polizisten, die Tränengas in Zelte von 
Kindern schießen, und danach hat wieder jemand einen neuen Film. Die 
Brände in Moria haben das für mich unterbrochen. Ich hatte das Gefühl, 
das kann nicht so abstrakt bleiben, ich muss etwas tun.

Mit Ihrem Kollegen Volker Bruch haben Sie schon im Sommer die 
Spendenkampagne „Los für Lesbos“ins Leben gerufen und mehr als eine 
halbe Million Euro gesammelt.

Ja. Moria war schon vor dem Brand ein unmenschlicher Ort, der evakuiert 
gehört hätte. Mit der Kampagne wollten wir Organisationen unterstützen, 
die speziell in diesem Unheilscamp wirken. Insofern war ich auf Lesbos 
auch im Gespräch mit der Kampagne #LeaveNoOneBehind, um zu sehen, wo 
kommt unser Geld an. Aber diese Reise ist aus mir entstanden. Ich habe 
mir einen Flug gebucht, eine kleine Pension gemietet und war eine Woche da.

Sie haben das privat finanziert?

Ja.

Wie sieht es denn jetzt in dem abgebrannten Flüchtlingslager aus?

Moria ist ein Schreckensort. Menschenleer, eine Brandhölle. Es ist 
riesig groß, in einem Tal gelegen, Sie sehen nur verkohlte Hütten. Wie 
in einem Horrorfilm. Dort zu stehen – kaum jemand weit und breit, ein 
paar Leute suchen sich aus den Hütten die letzten verwendbaren Dinge und 
ziehen sie hinter sich die Straße entlang Richtung neues

Camp – hat mich unfassbar erschüttert.

Was heißt das?

Es fällt mir immer noch schwer, darüber zu sprechen, weil mich das 
tiefer getroffen hat, als ich es mir je hätte vorstellen können. Der Ort 
ist wie so ein Mahnmal. Ein Brandfleck in unserer Geschichte. Und ich 
stand da – und konnte damit nicht umgehen. Mit diesen Tausenden 
Schicksalen, die ich mir vorgestellt habe. Wie es sich anfühlen mag, 
wenn man seine Heimat verlassen musste, wenn man alles aufgegeben hat, 
sich an einem Unrechtsort wie Moria einen winzigen Raum mit seinen 
letzten Habseligkeiten geschaffen hat. Und das verliert man in einem 
Feuer, in dem man seine Kinder schnappt und einfach nur wegrennt. Diese 
Panik spürt man noch. Moria lässt einen erzittern.

Wie sind die Lebensbedingungen in dem neu errichteten Lager?

Furchtbar. Das hat nichts mit Menschlichkeit zu tun. Allein der Ort: ein 
ehemaliges Militärgelände, auf dem Soldaten mit Metalldetektoren nach 
Munitionsresten suchen. Der Boden ist sicherlich komplett vergiftet. Und 
da rennen überall Kinder rum. 4000 Kinder leben an diesem Ort. Das Lager 
ist auf einer Seite begrenzt durchs Meer, drumherum in einer Art Dreieck 
sind meterhohe Zäune. Überhaupt ist Nato-Draht ein Hauptelement auch 
innerhalb des Lagers. Es ist extrem heiß, es gibt keinerlei Schutz vor 
Sonne; auch dem Wind, der reinpeitscht, ist man ausgeliefert. Dazu 
Staub, gelber Staub, der sich auf alles legt, auf die Zelte, die 
Menschen, die Polizeiwagen.

Und die Menschen?

Es sind um die 11 000 Leute dort, inzwischen vielleicht mehr. Das 
Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen hat Zelte errichtet, die für 
maximal acht Personen ausgerichtet sind. Dort leben bis zu zwölf 
Personen, unterschiedliche Familien in einem Zelt ohne jegliche 
Privatsphäre. Sie hängen Decken auf, damit sie sich umziehen können. Es 
gibt keine Elektrizität. Kein fließend Wasser, nur Rohre mit Löchern 
drin. Um dort ein bisschen Wasser abzuschöpfen, muss man Stunden lang 
Schlange stehen. Es wird nur einmal am Tag ungenießbares Essen 
ausgegeben. Und das alles dreieinhalb Flugstunden entfernt von hier.

Haben Sie Flüchtlinge persönlich kennengelernt?

Mein Übersetzer, selbst Geflüchteter, hat mich mehreren Familien 
vorgestellt, auch einer aus Syrien mit sechs Kindern. Sie sind aus dem 
Bombenhagel von Aleppo geflohen, der Vater ist von Granatensplittern 
schwer verletzt worden. Die Familie lebt seit anderthalb Jahren auf Lesbos.

Und der Asylantrag?

Der ist noch nicht durch. Die meisten warten auf Erstinterviews. Die 
Bürokratie arbeitet so langsam, dass die Menschen zum Teil für Jahre 
festhängen. Diese Familie jedenfalls hat mich in ihr Zelt eingeladen. 
Man muss sich das wie einen Geröllberg vorstellen, aufgeschüttet und 
plattgemacht, damit Zelte draufgebaut werden können. Die Menschen 
kriegen zwar jeder eine Decke und eine Matte. Aber die Steine bleiben 
spitz.

Wie geht es der Familie?

Die Verzweiflung und Wut dieser Mutter, die da vor mir saß . . . Sie hat 
mich geradezu angeschrien: „Ich wäre lieber in Syrien gestorben, als 
hier zu sein, wo meine Kinder das erleben müssen.“

Wie haben Sie reagiert?

Da weiß man nicht, was man sagen soll. „Ich höre Sie.“Das habe ich 
gesagt. Und dann dieser Vater, ein stolzer Mann, der all diese 
Verwundungen überstanden hatte. Er hatte drei seiner Töchter 
gleichzeitig auf dem Arm, die ihn umarmten und küssten. Und er war sehr 
liebevoll, was auf einmal wie eine Brücke war zu mir als Mann und Vater: 
wie er mit seinen Töchtern umgeht. Wie ich mit meinen Töchtern umgehe. 
Was meine Töchter für ein Leben führen dürfen. Was diese Kinder für ein 
Leben führen müssen, und dass sie absolut ohne jegliche Chance sind. 
Können wir alle das verantworten?

Was müsste passieren?

Es ist ein Hohn, dass diese 11 000 Leute nicht längst woanders 
hingebracht worden sind. 11 000 Leute gehen vielleicht auf ein Konzert 
von Chris de Burgh oder so. Insgesamt befinden sich 27 000 Menschen in 
den Camps der griechischen Ägäis. Das ist gut die Hälfte der Zuschauer 
im Frankfurter Waldstadion. Ich bin kein Politiker. Aber was ich gesehen 
habe – da muss gehandelt werden. Sonst können Sie Europa und einen Wert 
wie Menschlichkeit in die Tonne treten.

Und die Sorge, dass sich ein Flüchtlingszustrom wie 2015 wiederholt, 
gerade, wenn Deutschland im Alleingang handelt?

Natürlich müssen auch andere Länder Teil einer Lösung sein, es gibt ja 
die Koalition der Willigen. Aber ich glaube, dass Deutschland vorangehen 
muss. Momentan ist die Fluchtbewegung nicht so groß. Und auch den 
griechischen Inseln müsste geholfen werden. Man müsste die Camps 
evakuieren und den Einheimischen eine Verschnaufpause gönnen. Wer 
„Lesbos“hört, denkt ja nicht mehr an nette, kleine Tavernen am Strand. 
Wir haben diese Inseln geopfert, damit wir uns nicht mit Problemen 
beschäftigen müssen, die wir am Ende mitzuverantworten haben.

Was hat die Reise für Sie verändert?

Es fühlt sich an, als hätte ich jemanden zurückgelassen. Vielleicht geht 
dieses Gefühl auch wieder weg. Solche Erlebnisse kann man nicht 
abschütteln. Dieser Ort existiert jetzt real für mich. Und ich empfinde 
Verantwortung dafür.

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