<html>
<head>
<meta http-equiv="content-type" content="text/html; charset=UTF-8">
</head>
<body>
<ul class="art-meta">
<li>Article rank <span class="art-rank-0"></span></li>
<li>4 Oct 2020</li>
<li>Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung</li>
<li>Die Fragen stellte Julia Schaaf.</li>
</ul>
<h1>„Moria ist ein Mahnmal“ </h1>
Der Schauspieler Trystan Pütter ist nach Lesbos gereist, um sich ein
eigenes Bild von der Lage der Flüchtlinge zu machen. Hier spricht er
über seine Eindrücke.
<div class="clear">
<div class="art-layout-a-2x" id="testArtCol_a">
<p>
Herr Pütter, warum waren Sie vergangene Woche auf Lesbos?
Dreharbeiten? Katastrophentourismus? </p>
<span class="art-object art-mainimage" id="artObjectWrap"
style="height: 38.4em;"><a><img
src="https://i.prcdn.co/img?regionguid=d76ce7a6-215c-4470-ac19-c779b4a6646f&scale=172&file=9ld62020100400000000001001®ionKey=f7MViirSmcGlxRqscx6%2bXw%3d%3d"
id="artObject" width="945" height="823"><em><br>
</em></a></span></div>
<div class="art-layout-a-2x"><span class="art-object
art-mainimage" id="artObjectWrap" style="height: 38.4em;"><a><em>Foto
Trystan Pütter </em></a></span><span
class="art-imagetext">Natodraht und Geröll: „Das hat nichts
mit Menschlichkeit zu tun“, sagt Pütter über das neue
Flüchtlingslager auf Lesbos.</span>
<p>
Das Wort „Katastrophentourismus“finde ich in diesem
Zusammenhang zynisch. Die Lage auf Lesbos und den griechischen
Inseln bewegt mich schon lange. Aber wenn ich auf dem Handy
Nachrichten lese oder auf Instagram Bilder nach unten
streiche, hat alles dieselbe ferne Qualität: Jemand macht
Urlaub, ich sehe Polizisten, die Tränengas in Zelte von
Kindern schießen, und danach hat wieder jemand einen neuen
Film. Die Brände in Moria haben das für mich unterbrochen. Ich
hatte das Gefühl, das kann nicht so abstrakt bleiben, ich muss
etwas tun. </p>
<p>
Mit Ihrem Kollegen Volker Bruch haben Sie schon im Sommer die
Spendenkampagne „Los für Lesbos“ins Leben gerufen und mehr als
eine halbe Million Euro gesammelt. </p>
<p>
Ja. Moria war schon vor dem Brand ein unmenschlicher Ort, der
evakuiert gehört hätte. Mit der Kampagne wollten wir
Organisationen unterstützen, die speziell in diesem
Unheilscamp wirken. Insofern war ich auf Lesbos auch im
Gespräch mit der Kampagne #LeaveNoOneBehind, um zu sehen, wo
kommt unser Geld an. Aber diese Reise ist aus mir entstanden.
Ich habe mir einen Flug gebucht, eine kleine Pension gemietet
und war eine Woche da. </p>
<p>
Sie haben das privat finanziert? </p>
<p>
Ja. </p>
<p>
Wie sieht es denn jetzt in dem abgebrannten Flüchtlingslager
aus? </p>
<p>
Moria ist ein Schreckensort. Menschenleer, eine Brandhölle. Es
ist riesig groß, in einem Tal gelegen, Sie sehen nur verkohlte
Hütten. Wie in einem Horrorfilm. Dort zu stehen – kaum jemand
weit und breit, ein paar Leute suchen sich aus den Hütten die
letzten verwendbaren Dinge und ziehen sie hinter sich die
Straße entlang Richtung neues </p>
<p>
Camp – hat mich unfassbar erschüttert. </p>
<p>
Was heißt das? </p>
<p>
Es fällt mir immer noch schwer, darüber zu sprechen, weil mich
das tiefer getroffen hat, als ich es mir je hätte vorstellen
können. Der Ort ist wie so ein Mahnmal. Ein Brandfleck in
unserer Geschichte. Und ich stand da – und konnte damit nicht
umgehen. Mit diesen Tausenden Schicksalen, die ich mir
vorgestellt habe. Wie es sich anfühlen mag, wenn man seine
Heimat verlassen musste, wenn man alles aufgegeben hat, sich
an einem Unrechtsort wie Moria einen winzigen Raum mit seinen
letzten Habseligkeiten geschaffen hat. Und das verliert man in
einem Feuer, in dem man seine Kinder schnappt und einfach nur
wegrennt. Diese Panik spürt man noch. Moria lässt einen
erzittern. </p>
<p>
Wie sind die Lebensbedingungen in dem neu errichteten Lager? </p>
<p>
Furchtbar. Das hat nichts mit Menschlichkeit zu tun. Allein
der Ort: ein ehemaliges Militärgelände, auf dem Soldaten mit
Metalldetektoren nach Munitionsresten suchen. Der Boden ist
sicherlich komplett vergiftet. Und da rennen überall Kinder
rum. 4000 Kinder leben an diesem Ort. Das Lager ist auf einer
Seite begrenzt durchs Meer, drumherum in einer Art Dreieck
sind meterhohe Zäune. Überhaupt ist Nato-Draht ein
Hauptelement auch innerhalb des Lagers. Es ist extrem heiß, es
gibt keinerlei Schutz vor Sonne; auch dem Wind, der
reinpeitscht, ist man ausgeliefert. Dazu Staub, gelber Staub,
der sich auf alles legt, auf die Zelte, die Menschen, die
Polizeiwagen. </p>
</div>
<div class="art-layout-b-2x" id="testArtCol_b">
<p>
Und die Menschen? </p>
<p> Es sind um die 11 000 Leute dort, inzwischen vielleicht
mehr. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen hat Zelte
errichtet, die für maximal acht Personen ausgerichtet sind.
Dort leben bis zu zwölf Personen, unterschiedliche Familien in
einem Zelt ohne jegliche Privatsphäre. Sie hängen Decken auf,
damit sie sich umziehen können. Es gibt keine Elektrizität.
Kein fließend Wasser, nur Rohre mit Löchern drin. Um dort ein
bisschen Wasser abzuschöpfen, muss man Stunden lang Schlange
stehen. Es wird nur einmal am Tag ungenießbares Essen
ausgegeben. Und das alles dreieinhalb Flugstunden entfernt von
hier. </p>
<p> Haben Sie Flüchtlinge persönlich kennengelernt? </p>
<p> Mein Übersetzer, selbst Geflüchteter, hat mich mehreren
Familien vorgestellt, auch einer aus Syrien mit sechs Kindern.
Sie sind aus dem Bombenhagel von Aleppo geflohen, der Vater
ist von Granatensplittern schwer verletzt worden. Die Familie
lebt seit anderthalb Jahren auf Lesbos. </p>
<p> Und der Asylantrag? </p>
<p> Der ist noch nicht durch. Die meisten warten auf
Erstinterviews. Die Bürokratie arbeitet so langsam, dass die
Menschen zum Teil für Jahre festhängen. Diese Familie
jedenfalls hat mich in ihr Zelt eingeladen. Man muss sich das
wie einen Geröllberg vorstellen, aufgeschüttet und
plattgemacht, damit Zelte draufgebaut werden können. Die
Menschen kriegen zwar jeder eine Decke und eine Matte. Aber
die Steine bleiben spitz. </p>
<p> Wie geht es der Familie? </p>
<p> Die Verzweiflung und Wut dieser Mutter, die da vor mir saß .
. . Sie hat mich geradezu angeschrien: „Ich wäre lieber in
Syrien gestorben, als hier zu sein, wo meine Kinder das
erleben müssen.“ </p>
<p> Wie haben Sie reagiert? </p>
<p> Da weiß man nicht, was man sagen soll. „Ich höre Sie.“Das
habe ich gesagt. Und dann dieser Vater, ein stolzer Mann, der
all diese Verwundungen überstanden hatte. Er hatte drei seiner
Töchter gleichzeitig auf dem Arm, die ihn umarmten und
küssten. Und er war sehr liebevoll, was auf einmal wie eine
Brücke war zu mir als Mann und Vater: wie er mit seinen
Töchtern umgeht. Wie ich mit meinen Töchtern umgehe. Was meine
Töchter für ein Leben führen dürfen. Was diese Kinder für ein
Leben führen müssen, und dass sie absolut ohne jegliche Chance
sind. Können wir alle das verantworten? </p>
<p> Was müsste passieren? </p>
<p> Es ist ein Hohn, dass diese 11 000 Leute nicht längst
woanders hingebracht worden sind. 11 000 Leute gehen
vielleicht auf ein Konzert von Chris de Burgh oder so.
Insgesamt befinden sich 27 000 Menschen in den Camps der
griechischen Ägäis. Das ist gut die Hälfte der Zuschauer im
Frankfurter Waldstadion. Ich bin kein Politiker. Aber was ich
gesehen habe – da muss gehandelt werden. Sonst können Sie
Europa und einen Wert wie Menschlichkeit in die Tonne treten.
</p>
<p> Und die Sorge, dass sich ein Flüchtlingszustrom wie 2015
wiederholt, gerade, wenn Deutschland im Alleingang handelt? </p>
<p> Natürlich müssen auch andere Länder Teil einer Lösung sein,
es gibt ja die Koalition der Willigen. Aber ich glaube, dass
Deutschland vorangehen muss. Momentan ist die Fluchtbewegung
nicht so groß. Und auch den griechischen Inseln müsste
geholfen werden. Man müsste die Camps evakuieren und den
Einheimischen eine Verschnaufpause gönnen. Wer „Lesbos“hört,
denkt ja nicht mehr an nette, kleine Tavernen am Strand. Wir
haben diese Inseln geopfert, damit wir uns nicht mit Problemen
beschäftigen müssen, die wir am Ende mitzuverantworten haben.
</p>
<p> Was hat die Reise für Sie verändert? </p>
<span class="art-object" id="artObjectWrap2"><span
class="art-moreimages clear" id="artObject2"><a><img
src="https://i.prcdn.co/img?regionguid=87ea78d3-bd9f-44da-811f-706c6b6c2c52&scale=187&file=9ld62020100400000000001001®ionKey=5d4JRXGA3jbJ5bvc2Jj%2fyw%3d%3d"></a></span></span>
<p> Es fühlt sich an, als hätte ich jemanden zurückgelassen.
Vielleicht geht dieses Gefühl auch wieder weg. Solche
Erlebnisse kann man nicht abschütteln. Dieser Ort existiert
jetzt real für mich. Und ich empfinde Verantwortung dafür. </p>
</div>
</div>
</body>
</html>