[D66] Die Arbeit der Nacht
R.O.
jugg at ziggo.nl
Wed Nov 11 07:26:08 CET 2020
* 11 Nov 2020
* Frankfurter Allgemeine Zeitung
* ELENA WITZECK
Die Arbeit der Nacht
Schon wieder schlecht geschlafen? Wie sich Träume durch die Pandemie
verändern und welche Lehren die Forschung daraus zieht.
Längst träumen wir davon. Die neue Realität ist tief in unser
Bewusstsein gesickert: Verbotene Berührungen, überfüllte Plätze,
rücksichtsloses Drängeln im Supermarkt, eine ungewisse Bedrohung. Nun,
im zweiten Lockdown, fehlen wieder die äußerlichen Reize, die für
ständige Ablenkung sorgten. In der Ereignislosigkeit eines zu Hause
verbrachten Tages formt der ruhelose Geist schon die Bilder der Nacht.
/Foto The J. Paul Getty Museum / Collection /Jetzt am besten ganz
schnell aufwachen – aus der Serie „Dream Collector“von Arthur Tress
In einer finnischen Studie erzählten zuletzt achthundert Befragte von
ihren Träumen während des Lockdowns. Die meisten Teilnehmer klagten über
mehr Stress und seine Folgen, Schlafstörungen und Albträume. Ein Drittel
von ihnen berichtete von Szenen aus dem Pandemiealltag. Besonders bei
den Frauen fanden die negativen Gefühle, die Angst und die Beschäftigung
mit dem Tod ihren Weg in die Träume. Und das allein in den ersten sechs
Wochen nach Ausbruch der Pandemie. Inzwischen sitzen Unsicherheit und
Unzufriedenheit mit der täglichen Leere schon deutlich tiefer.
Nicht jeder Traum bleibt im Kopf. Träume sind dafür gemacht, vergessen
zu werden. Wenn wir uns an alles Geträumte erinnerten, wäre die
Verwirrung groß. Francesca Siclari hat mit Menschen zu tun, die bei all
den nächtlichen Eindrücken nicht mehr zwischen Traum und Realität
unterscheiden können – oder sie anflehen, sie von ihren machtvollen
Träumen zu befreien. Siclari ist Neurologin und untersucht am
Schlafzentrum des Universitätsspitals in Lausanne, wie das Gehirn
träumt. Im Schlaflabor prüft sie die Gehirnregionen, die bei ihren
Probanden in bestimmten Traumszenarien aktiv werden. Sie arbeitet mit
Patienten, die Schlafstörungen haben oder schlafwandeln, auch solchen,
die glauben, gar nicht schlafen zu können, weil eine unermüdliche
Hirnregion ihnen das suggeriert.
Aus Sicht der von Freud begründeten Psychoanalyse sind Träume vor allem
Wünsche und Begehren, die wir im Wachen entwickelt, aber kontrolliert
haben. Forscher wie Francesca Siclari definieren Träume schlicht als
verarbeitete und in Schlaferfahrungen übersetzte Erlebnisse des Tages.
Inzwischen sind sich Wissenschaftler einig, dass Träume keine Abbilder
früher erlebter, womöglich verdrängter Erfahrungen sind. Sie erzeugen
etwas Neues aus dem Erlebten. Der Blick ist in die Gegenwart gerichtet,
aber auch in die Zukunft. Bei all dem ist das Gehirn genauso aktiv wie
im Wachzustand.
Francesca Siclari will es nicht so deutlich sagen, weil es sich ein
wenig hartherzig anhört, aber für sie als Wissenschaftlerin ist das Jahr
2020 sehr ergiebig, eine Chance für die Forschung. Die Menschen haben
gerade besonders lebendige Träume, und sie erinnern sich besser an sie.
Sie schlafen unruhiger und wachen häufiger auf – eine Gelegenheit, die
Traumbilder festzuhalten. Auch der Schlafrhythmus hat sich verändert.
Die im Bett verbrachten Morgenstunden, in denen die REM-Phase mit den
meisten Träumen liegt, sind im Lockdown durchschnittlich länger
geworden. Seltener unterbricht ein Wecker abrupt einen Traum. Was jetzt
an Traummaterial in Online-Datenbanken eingetragen und in Studien
gespeist wird, ist für die Forscher ein Gewinn. Algorithmen und
Spracherkennungsprogramme erleichtern die Auswertung, so wie bei der
quantitativen Studie in Finnland. „Wir sind so weit wie nie zuvor“, sagt
Francesca Siclari. Wie wurde geträumt in anderen Krisen, in
Katastrophenzeiten, im Weltkrieg und in Überwachungsstaaten?
Charlotte Beradt, die während des Nationalsozialismus in Deutschland
Träumende befragte, sammelte die Ergebnisse später in ihrem Buch „Das
Dritte Reich des Traums“. Es zeigt, wie sehr die Überwachungserfahrungen
in die Traumwelt eindrangen. Die Befragten berichten von gläsernen
Wänden und lesbaren Gedanken, von einer alles kontrollierenden Behörde.
Einige von ihnen schwanken nachts zwischen dem Anspruch, anderen zu
helfen, und der Erkenntnis, sich selbst zu retten – und versagen im
Anblick des Leides. Andere fliehen im Schlaf in einen Alltag, den es
längst nicht mehr gibt, gehen ins Theater, tanzen, spielen mit Kindern
im Park.
Es war schon immer eine Herausforderung der Traumforschung, Menschen
dazu zu bringen, ihre nächtlichen Grenzerfahrungen zu teilen und unter
Beobachtung zu stellen. Zwar sind die besonders emotionalen Albträume
diejenigen, die durchschnittlich häufiger in Erinnerung bleiben, auch
weil die Psyche zum Aufwachen drängt: ein Schutzmechanismus. Aber wer
traumatisiert ist oder Träume hat, in denen Leid und Schmerz als
Flashback wiederkehren, verdrängt. Die Erfahrung aus Unrechtsstaaten
zeigt außerdem, dass sich die erlebte Qual nicht unbedingt im Traum
wiederholt – vielmehr dissoziieren die Schlafenden die als bedrohlich
empfundenen Erfahrungen. So hat es die Schriftstellerin Ursula Krechel
beobachtet. Sie spalten das Erlebte aus ihrem Alltagsbewusstsein ab,
schließen die Zumutung aus. Eine Überlebensstrategie.
Wenn draußen nichts passiert und das Innere im Aufruhr ist, kann es
vorkommen, dass sich die Träume mit Handlung aufladen. Im
November-Lockdown berichten die Menschen von sehr lebendigen Träumen aus
dem Berufsalltag – es fehlt schlicht an anderen Reizen. Francesca
Siclari kennt Fälle von Seglern, die nach Wochen auf See und ohne
Abwechslung Begegnungen halluzinierten, und von Langstreckenläufern, die
nach Stunden monotonen Dahinrennens Objekte und Menschen wahrnehmen, die
gar nicht existieren. Die Schriftstellerin Herta Müller schreibt über
ihre eigenen Traumerfahrungen in der Diktatur: „Es blieb auch mir selbst
kein Geheimnis, dass sich der Schlaf mit seinen Träumen umso mehr
zumutet, umso weniger sich der Tag mit seinem großen Auge über allen
zugesteht. Je größer die Zwänge waren, je wilder und dichter waren die
Träume.“
Aber auch die Auflehnung, der Kampf gegen die äußere Macht drückt sich
in Träumen aus. Neben den gängigen Traumforschungen findet eine Lesart
der Evolutionspsychologie immer mehr Anklang: Träume von Bedrohungen
sollen dabei helfen, bei Tageslicht besser mit Risikosituationen
umzugehen. Sie sind produktiv. Die Konfrontation mit Urängsten bereitet
auf Gefahren vor, denen wir im Alltag heute gar nicht mehr so oft
ausgesetzt sind. Ein Moment des Kontrollverlusts kann an eine schon
erlebte Erfahrung erinnern: etwa eine Prüfung zu Schulzeiten. Im
wiederkehrenden Traum von der Testsituation versagen wir, obwohl das
womöglich nie so passiert ist. Die neue, ganz andere Herausforderung
wird im Traum in eine bereits erlebte Angst übersetzt, die unter
Kontrolle gebracht werden muss – mit möglicherweise bekannten
Strategien. Die Leiterin der finnischen Studie, Anu-Katriina Pesonen,
sagt: „Der Schlaf fördert Lernprozesse. Wir alle müssen uns derzeit ein
neues Sozialverhalten aneignen.“
Andere Wissenschaftler sehen im wiederkehrenden Albtraum des Versagens
eine Störung im Regulierungsprozess der Schlafenden. Die Fähigkeit,
aktiv Einfluss zu nehmen, haben die wenigsten: Beim luziden Träumen wird
der Zustand erkannt, die Schlafenden führen selbst Regie. Die Spirale
des Versagens kann durchbrochen werden. In der modernen Traumtherapie
bitten Ärzte ihre Patienten, ihre Träume niederzuschreiben und den
Verlauf so zu verändern, dass sie sich in etwas Positives, Bestärkendes
auflösen. Diese Traumskripte sollen sich im Bewusstsein festsetzen – und
dazu beitragen, dass die Albträume seltener werden.
Ob wir Träume als gut oder schädlich wahrnehmen, sagt Francesca Siclari,
die Traumforscherin, hänge davon ab, was wir aus ihnen machen. Sie
aufzuschreiben sei eigentlich immer bereichernd. „Wir verdrängen sie
nicht, auch wenn die Angst noch so groß ist.“Und die richtige
Vorbereitung auf den Umgang mit denen, die noch kommen.
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