<html>
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    <meta http-equiv="content-type" content="text/html; charset=UTF-8">
  </head>
  <body>
    <br>
    <ul class="art-meta">
      <li>11 Nov 2020</li>
      <li>Frankfurter Allgemeine Zeitung</li>
      <li>ELENA WITZECK</li>
    </ul>
    <h1>Die Arbeit der Nacht </h1>
    Schon wieder schlecht geschlafen? Wie sich Träume durch die Pandemie
    verändern und welche Lehren die Forschung daraus zieht.
    <div class="clear">
      <div class="art-layout-a-2x" id="testArtCol_a">
        <p> Längst träumen wir davon. Die neue Realität ist tief in
          unser Bewusstsein gesickert: Verbotene Berührungen, überfüllte
          Plätze, rücksichtsloses Drängeln im Supermarkt, eine ungewisse
          Bedrohung. Nun, im zweiten Lockdown, fehlen wieder die
          äußerlichen Reize, die für ständige Ablenkung sorgten. In der
          Ereignislosigkeit eines zu Hause verbrachten Tages formt der
          ruhelose Geist schon die Bilder der Nacht. </p>
        <span class="art-object art-mainimage" id="artObjectWrap"
          style="height: 64em;"><a><img
src="https://i.prcdn.co/img?regionguid=91404a45-fdf7-4db5-9afb-ad1fb6cff638&scale=159&file=30052020111100000000001001&regionKey=Km9GGUQODiFf3jVRpQsiLQ%3d%3d"
              id="artObject" width="432" height="541"><em>Foto The J.
              Paul Getty Museum / Collection </em></a></span><span
          class="art-imagetext">Jetzt am besten ganz schnell aufwachen –
          aus der Serie „Dream Collector“von Arthur Tress</span>
        <p> In einer finnischen Studie erzählten zuletzt achthundert
          Befragte von ihren Träumen während des Lockdowns. Die meisten
          Teilnehmer klagten über mehr Stress und seine Folgen,
          Schlafstörungen und Albträume. Ein Drittel von ihnen
          berichtete von Szenen aus dem Pandemiealltag. Besonders bei
          den Frauen fanden die negativen Gefühle, die Angst und die
          Beschäftigung mit dem Tod ihren Weg in die Träume. Und das
          allein in den ersten sechs Wochen nach Ausbruch der Pandemie.
          Inzwischen sitzen Unsicherheit und Unzufriedenheit mit der
          täglichen Leere schon deutlich tiefer. </p>
        <p> Nicht jeder Traum bleibt im Kopf. Träume sind dafür gemacht,
          vergessen zu werden. Wenn wir uns an alles Geträumte
          erinnerten, wäre die Verwirrung groß. Francesca Siclari hat
          mit Menschen zu tun, die bei all den nächtlichen Eindrücken
          nicht mehr zwischen Traum und Realität unterscheiden können –
          oder sie anflehen, sie von ihren machtvollen Träumen zu
          befreien. Siclari ist Neurologin und untersucht am
          Schlafzentrum des Universitätsspitals in Lausanne, wie das
          Gehirn träumt. Im Schlaflabor prüft sie die Gehirnregionen,
          die bei ihren Probanden in bestimmten Traumszenarien aktiv
          werden. Sie arbeitet mit Patienten, die Schlafstörungen haben
          oder schlafwandeln, auch solchen, die glauben, gar nicht
          schlafen zu können, weil eine unermüdliche Hirnregion ihnen
          das suggeriert. </p>
      </div>
      <div class="art-layout-b-2x" id="testArtCol_b">
        <p> Aus Sicht der von Freud begründeten Psychoanalyse sind
          Träume vor allem Wünsche und Begehren, die wir im Wachen
          entwickelt, aber kontrolliert haben. Forscher wie Francesca
          Siclari definieren Träume schlicht als verarbeitete und in
          Schlaferfahrungen übersetzte Erlebnisse des Tages. Inzwischen
          sind sich Wissenschaftler einig, dass Träume keine Abbilder
          früher erlebter, womöglich verdrängter Erfahrungen sind. Sie
          erzeugen etwas Neues aus dem Erlebten. Der Blick ist in die
          Gegenwart gerichtet, aber auch in die Zukunft. Bei all dem ist
          das Gehirn genauso aktiv wie im Wachzustand. </p>
        <p> Francesca Siclari will es nicht so deutlich sagen, weil es
          sich ein wenig hartherzig anhört, aber für sie als
          Wissenschaftlerin ist das Jahr 2020 sehr ergiebig, eine Chance
          für die Forschung. Die Menschen haben gerade besonders
          lebendige Träume, und sie erinnern sich besser an sie. Sie
          schlafen unruhiger und wachen häufiger auf – eine Gelegenheit,
          die Traumbilder festzuhalten. Auch der Schlafrhythmus hat sich
          verändert. Die im Bett verbrachten Morgenstunden, in denen die
          REM-Phase mit den meisten Träumen liegt, sind im Lockdown
          durchschnittlich länger geworden. Seltener unterbricht ein
          Wecker abrupt einen Traum. Was jetzt an Traummaterial in
          Online-Datenbanken eingetragen und in Studien gespeist wird,
          ist für die Forscher ein Gewinn. Algorithmen und
          Spracherkennungsprogramme erleichtern die Auswertung, so wie
          bei der quantitativen Studie in Finnland. „Wir sind so weit
          wie nie zuvor“, sagt Francesca Siclari. Wie wurde geträumt in
          anderen Krisen, in Katastrophenzeiten, im Weltkrieg und in
          Überwachungsstaaten? </p>
        <p> Charlotte Beradt, die während des Nationalsozialismus in
          Deutschland Träumende befragte, sammelte die Ergebnisse später
          in ihrem Buch „Das Dritte Reich des Traums“. Es zeigt, wie
          sehr die Überwachungserfahrungen in die Traumwelt eindrangen.
          Die Befragten berichten von gläsernen Wänden und lesbaren
          Gedanken, von einer alles kontrollierenden Behörde. Einige von
          ihnen schwanken nachts zwischen dem Anspruch, anderen zu
          helfen, und der Erkenntnis, sich selbst zu retten – und
          versagen im Anblick des Leides. Andere fliehen im Schlaf in
          einen Alltag, den es längst nicht mehr gibt, gehen ins
          Theater, tanzen, spielen mit Kindern im Park. </p>
        <p> Es war schon immer eine Herausforderung der Traumforschung,
          Menschen dazu zu bringen, ihre nächtlichen Grenzerfahrungen zu
          teilen und unter Beobachtung zu stellen. Zwar sind die
          besonders emotionalen Albträume diejenigen, die
          durchschnittlich häufiger in Erinnerung bleiben, auch weil die
          Psyche zum Aufwachen drängt: ein Schutzmechanismus. Aber wer
          traumatisiert ist oder Träume hat, in denen Leid und Schmerz
          als Flashback wiederkehren, verdrängt. Die Erfahrung aus
          Unrechtsstaaten zeigt außerdem, dass sich die erlebte Qual
          nicht unbedingt im Traum wiederholt – vielmehr dissoziieren
          die Schlafenden die als bedrohlich empfundenen Erfahrungen. So
          hat es die Schriftstellerin Ursula Krechel beobachtet. Sie
          spalten das Erlebte aus ihrem Alltagsbewusstsein ab, schließen
          die Zumutung aus. Eine Überlebensstrategie. </p>
        <p> Wenn draußen nichts passiert und das Innere im Aufruhr ist,
          kann es vorkommen, dass sich die Träume mit Handlung aufladen.
          Im November-Lockdown berichten die Menschen von sehr
          lebendigen Träumen aus dem Berufsalltag – es fehlt schlicht an
          anderen Reizen. Francesca Siclari kennt Fälle von Seglern, die
          nach Wochen auf See und ohne Abwechslung Begegnungen
          halluzinierten, und von Langstreckenläufern, die nach Stunden
          monotonen Dahinrennens Objekte und Menschen wahrnehmen, die
          gar nicht existieren. Die Schriftstellerin Herta Müller
          schreibt über ihre eigenen Traumerfahrungen in der Diktatur:
          „Es blieb auch mir selbst kein Geheimnis, dass sich der Schlaf
          mit seinen Träumen umso mehr zumutet, umso weniger sich der
          Tag mit seinem großen Auge über allen zugesteht. Je größer die
          Zwänge waren, je wilder und dichter waren die Träume.“ </p>
        <p> Aber auch die Auflehnung, der Kampf gegen die äußere Macht
          drückt sich in Träumen aus. Neben den gängigen
          Traumforschungen findet eine Lesart der Evolutionspsychologie
          immer mehr Anklang: Träume von Bedrohungen sollen dabei
          helfen, bei Tageslicht besser mit Risikosituationen umzugehen.
          Sie sind produktiv. Die Konfrontation mit Urängsten bereitet
          auf Gefahren vor, denen wir im Alltag heute gar nicht mehr so
          oft ausgesetzt sind. Ein Moment des Kontrollverlusts kann an
          eine schon erlebte Erfahrung erinnern: etwa eine Prüfung zu
          Schulzeiten. Im wiederkehrenden Traum von der Testsituation
          versagen wir, obwohl das womöglich nie so passiert ist. Die
          neue, ganz andere Herausforderung wird im Traum in eine
          bereits erlebte Angst übersetzt, die unter Kontrolle gebracht
          werden muss – mit möglicherweise bekannten Strategien. Die
          Leiterin der finnischen Studie, Anu-Katriina Pesonen, sagt:
          „Der Schlaf fördert Lernprozesse. Wir alle müssen uns derzeit
          ein neues Sozialverhalten aneignen.“ </p>
        <p> Andere Wissenschaftler sehen im wiederkehrenden Albtraum des
          Versagens eine Störung im Regulierungsprozess der Schlafenden.
          Die Fähigkeit, aktiv Einfluss zu nehmen, haben die wenigsten:
          Beim luziden Träumen wird der Zustand erkannt, die Schlafenden
          führen selbst Regie. Die Spirale des Versagens kann
          durchbrochen werden. In der modernen Traumtherapie bitten
          Ärzte ihre Patienten, ihre Träume niederzuschreiben und den
          Verlauf so zu verändern, dass sie sich in etwas Positives,
          Bestärkendes auflösen. Diese Traumskripte sollen sich im
          Bewusstsein festsetzen – und dazu beitragen, dass die
          Albträume seltener werden. </p>
        <p> Ob wir Träume als gut oder schädlich wahrnehmen, sagt
          Francesca Siclari, die Traumforscherin, hänge davon ab, was
          wir aus ihnen machen. Sie aufzuschreiben sei eigentlich immer
          bereichernd. „Wir verdrängen sie nicht, auch wenn die Angst
          noch so groß ist.“Und die richtige Vorbereitung auf den Umgang
          mit denen, die noch kommen. </p>
      </div>
    </div>
  </body>
</html>