[D66] 'Wir können die Revolution nicht dem Virus überlassen'
Antid Oto
jugg at ziggo.nl
Tue Apr 14 07:17:11 CEST 2020
(Zo denk ik dus ook over: "Die Solidarität, voneinander Abstand zu
nehmen, ist keine Solidarität, die von einer anderen, friedlicheren,
gerechteren Gesellschaft träumen ließe. Wir können die Revolution nicht
dem Virus überlassen. ")
„Wir dürfen die Vernunft nicht dem Virus überlassen“
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welt.de
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<https://getpocket.com/redirect?url=https%3A%2F%2Fwww.welt.de%2Fprint%2Fdie_welt%2Fkultur%2Farticle206732493%2FWir-duerfen-die-Vernunft-nicht-dem-Virus-ueberlassen.html>
Warum sind asiatische Länder uns in der Virusbekämpfung überlegen? Der
Philosoph Byung-Chul Han über Big Data, Konfuzianismus und Souveränität
Corona ist ein Systemtest. Asien bekommt die Epidemie viel besser in den
Griff als Europa. In Hongkong, Taiwan und Singapur gibt es nur sehr
wenige Infizierte. Taiwan <https://www.welt.de/themen/taiwan-reisen/>
meldet 108, Hongkong <https://www.welt.de/themen/hongkong-staedtereise/>
193. In Deutschland <https://www.welt.de/themen/deutschland-reisen/>
sind in wesentlich kürzerem Zeitraum schon 14481 (!) Leute erkrankt (19.
März). Südkorea hat inzwischen das Schlimmste hinter sich. Japan
ebenfalls. Auch das Ursprungsland der Epidemie China
<https://www.welt.de/themen/china-reisen/> hat die Epidemie weitgehend
unter Kontrolle gebracht.
Weder Taiwan noch Korea haben aber eine Ausgangssperre verhängt oder
Geschäfte und Restaurants geschlossen. Inzwischen hat ein Exodus der
Asiaten aus Europa eingesetzt. Chinesen oder Koreaner wollen zurück in
ihre Heimat, weil sie sich dort sicherer fühlen. Der Flugpreis hat sich
vervielfacht. Inzwischen ist kaum ein Flugticket nach China oder Korea
mehr zu bekommen.
Europa strauchelt. Infektionszahlen steigen exponentiell. Europa scheint
die Epidemie nicht in den Griff zu bekommen. In Italien
<https://www.welt.de/themen/italien-reisen/> sterben täglich hunderte
Menschen. Ältere Patienten werden vom Beatmungsgerät abgetrennt, damit
jüngeren geholfen werden kann. Zu beobachten ist auch ein leerer
Aktionismus. Grenzschließungen sind verzweifelter Ausdruck der
Souveränität. Wir fühlen uns ins Zeitalter der Souveränität
zurückversetzt. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.
Souverän ist, wer Grenzen schließt.
Das ist allerdings eine leere Souveränitätsschau, die nichts bewirkt.
Intensive Kooperationen innerhalb der Euro würden viel mehr helfen. Die
EU hat ein Einreiseverbot für Ausländer verhängt, ein total sinnloser
Akt angesichts der Tatsache, dass niemand nach Europa kommen will.
Sinnvoller wäre, wenn überhaupt, ein Ausreiseverbot für Europäer, um die
Welt vor Europa zu schützen. Europa ist ja gegenwärtig der Hotspot der
Epidemie.
Was für Systemvorteile hat Asien gegenüber Europa, die sich als positiv
für die Bekämpfung der Epidemie erweisen? Staaten wie Japan, Korea,
China, Hongkong, Taiwan oder Singapur, sind, schon kulturell bedingt
(Konfuzianismus), autoritär. Die Menschen sind folg- und gehorsamer als
in Europa. Sie haben mehr Vertrauen in den Staat. Und das Alltagsleben
ist wesentlich strenger organisiert, nicht nur in China, sondern auch in
Korea oder Japan. Vor allem setzen die Asiaten gegen das Virus massiv
auf die digitale Überwachung. In Big Data vermuten sie ein riesiges
Potential gegen die Epidemie.
Man könnte sagen, in Asien werden Epidemien nicht nur durch Virologen
oder Epidemiologen, sondern vor allem durch Informatiker und
Big-Data-Spezialisten bekämpft. Ein Paradigmenwechsel, der in Europa
noch nicht wahrgenommen wird. Big Data rettet Menschenleben, würden die
Apologeten der digitalen Überwachung ausrufen.
In Asien existiert kaum ein kritisches Bewusstsein gegen die digitale
Überwachung. Vom Datenschutz redet man kaum noch, selbst in liberalen
Staaten wie Japan und Korea. Niemand lehnt sich auf gegen die
Datensammelwut der Behörden. China hat inzwischen ein für Europäer
unvorstellbares Social-Scoring-System eingeführt, das eine umfassende
Bürgerevaluation erlaubt.
Jeder Bürger soll in seinem sozialen Verhalten konsequent bewertet
werden. Es gibt in China keinen unbeobachteten Moment im. Jeder Klick,
jeder Kauf, jeder Kontakt, jede Aktivität in den Sozialen Netzwerken
wird kontrolliert. Wer die rote Ampel überfährt, wer mit
regimekritischen Personen verkehrt oder kritische Kommentare in den
Sozialen Medien postet, bekommt Minuspunkte. Das Leben kann dann sehr
gefährlich werden.
Wer hingegen übers Internet gesunde Nahrungsmittel kauft oder parteinahe
Zeitungen liest, bekommt Pluspunkte. Wer über genügende Pluspunkte
verfügt, erhält ein Reisevisum ober günstige Kredite
<https://www.welt.de/themen/kredit/>. Wer hingegen unter eine bestimmte
Punktzahl fällt, könnte seinen Job verlieren. In China ist diese soziale
Überwachung möglich, weil ein uneingeschränkter Datenaustausch zwischen
Internet- und Mobilfunkanbietern und Behörden stattfindet. Es existiert
praktisch kein Datenschutz. Das Wort „Privatsphäre“ gehört nicht ins
Vokabular der Chinesen.
In China gibt es 200 Millionen Überwachungskameras, teilweise mit
hocheffizienter Gesichtserkennungstechnik ausgestattet. Sie erfassen
sogar Leberflecken. Es ist nicht möglich, der Überwachungskamera zu
entkommen. Diese mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Kameras
können jeden Bürger in den Geschäften, auf den Straßen, auf Bahnhöfen
und Flughafen beobachten und bewerten.
Die Infrastruktur zur digitalen Überwachung erweist sich nun als
hochwirksam gegen die Eindämmung der Epidemie. Wenn jemand am Pekinger
Bahnhof rauskommt, wird er automatisch von einer Kamera erfasst, die
seine Körpertemperatur misst. Bei auffälligen Werten werden automatisch
jene Personen per Handy informiert, die im gleichen Waggon saßen.
In den sozialen Medien wird sogar über Drohneneinsatz zur Überwachung
der Quarantänen berichtet. Wenn jemand heimlich seine Quarantäne
verlässt, kommt eine Drohne angeflogen, die ihn dazu auffordert, in die
Wohnung zurückzukehren. Vielleicht druckt sie sogar einen
Bußgeldbescheid aus und lässt ihn auf die Person heruntersegeln, wer
weiß. Ein für Europäer dystopischer Zustand, der in China offenbar auf
keinen Widerstand stößt.
In Asien herrscht Kollektivismus. Es gibt keinen ausgeprägten
Individualismus. Der Individualismus ist etwas anderes als der Egoismus,
der natürlich auch in Asien grassiert.
Big Data ist zur Virusbekämpfung effizienter als sinnlose
Grenzschließungen, die gegenwärtig von Europäern vorgenommen werden.
Allerdings ist in Europa aufgrund von Datenschutz eine vergleichbare
digitale Bekämpfung des Virus nicht möglich. Chinesische Mobilfunk- und
Internetanbieter teilen die sensiblen Daten ihrer Kunden mit den
Sicherheitsbehörden und Gesundheitsämtern.
Der Staat weiß, wo ich bin, mit wem ich mich treffe, was ich mache,
wonach ich suche, woran ich denke, was ich esse, was ich kaufe, wohin
ich mich bewege. In Zukunft werden womöglich auch Körpertemperatur,
Gewicht, Blutzuckerwerte etc. kontrolliert. Eine digitale Biopolitik,
die mit der digitalen Psychopolitik einhergeht, die die Menschen aktiv
steuert.
In Wuhan wurden tausende digitale Ermittlungsteams gebildet, die
potentielle Infizierte aufspüren. Allein anhand der Big Data-Analyse
finden sie heraus, wer potenzielle Infizierte sind, wer weiterhin
beobachtet und eventuell in der Quarantäne isoliert werden muss. Die
Zukunft liegt, auch in Bezug auf die Epidemie, in der Digitalisierung.
Angesichts der Epidemie sollten wir vielleicht sogar die Souveränität
neu definieren. Souverän ist, wer über Daten verfügt. Europa hängt noch
an alten Souveränitätsmodellen, wenn es den Ausnahmezustand ausruft oder
Grenzen schließt.
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Nicht nur in China, sondern auch in anderen asiatischen Ländern wird die
digitale Überwachung zur Eindämmung der Epidemie genutzt. In Taiwan
schickt der Staat allen Bürgern gleichzeitig eine SMS, um
Kontaktpersonen zu ermitteln oder Menschen über Orte und Gebäude zu
informieren, wo sich Infizierte aufgehalten haben. Taiwan hat frühzeitig
unterschiedliche Daten miteinander verknüpft, um potentielle Infizierte
anhand ihrer Reisetätigkeiten zu ermitteln.
Wer sich in Korea einem Gebäude nähert, in dem sich ein Infizierter
aufgehalten hat, bekommt per Corona-App einen Warnalarm. Alle Orte, die
von Infizierten aufgesucht wurden, sind in der App
<https://www.welt.de/themen/apps/> erfasst. In Korea sind in jedem
Gebäude im jedem Stock, über jedem Büro oder Laden Überwachungskameras
installiert. Es ist praktisch unmöglich, sich in der Öffentlichkeit zu
bewegen, ohne von der Videokamera aufgezeichnet zu werden.
Zusammen mit Handydaten lässt sich mit dem aufgezeichneten Videomaterial
das komplette Bewegungsprofil herstellen. Bewegungsabläufe aller
Infizierten werden veröffentlicht. Da können schon mal heimliche
Liebschaften auffliegen. In koreanischen Gesundheitsämtern gibt es
sogenannte „Tracker“, die sich Tag und Nacht das aufgezeichnete
Videomaterial anschauen, um das Bewegungsprofil der Infizierten zu
vervollständigen und Kontaktpersonen aufzuspüren.
Ein auffälliger Unterschied zwischen Asien und Europa sind Schutzmasken.
In Korea gibt es praktisch niemanden, der ohne Atemmasken herumläuft,
die Viren herausfiltern können. Es handelt sich nicht um gewöhnliche
chirurgische Masken, sondern um spezielle Schutzmasken mit Filtern, die
auch Ärzte tragen. In den letzten Wochen war die Versorgung der
Bevölkerung mit Masken in Korea das Thema Nr. 1.
Vor Apotheken bildeten sich riesige Schlangen
<https://www.welt.de/themen/schlangen/>. Politiker wurden daran
gemessen, wie effizient sie die Bevölkerung mit Schutzmasken versorgen.
Neue Maschinen zur Herstellung von Masken wurden in Eile gebaut. Im
Moment scheint die Versorgung gut zu klappen. Es existiert inzwischen
eine App, die informiert, in welcher Apotheke in der Nähe noch Masken zu
bekommen sind. Ich denke, dass Schutzmasken, mit denen in Asien die
ganze Bevölkerung versorgt wird, entscheidend zur Eindämmung der
Epidemie beigetragen haben.
Koreaner tragen selbst am Arbeitsplatz Schutzmasken. Politiker treten
nur mit Schutzmasken öffentlich auf. Der koreanische Präsident trägt
demonstrativ die Maske, selbst in der Pressekonferenz. In Korea wird man
regelrecht beschimpft, wenn man keine Maske trägt. In Deutschland hört
man hingegen, dass die Masken nicht viel helfen würden, was Schwachsinn
ist. Warum tragen dann die Ärzte die Schutzmasken?
Die Masken muss man nur häufig genug wechseln, sie verlieren die
Filterfunktion, wenn sie feucht werden. Aber inzwischen haben die
Koreaner eine „Corona-Maske“ mit Nano-Filtern entwickelt, die man sogar
waschen kann. Sie könnte Menschen vor Viren schützen für einen Monat,
eigentlich eine sehr gute Lösung, solange es keine Impfung und auch kein
Heilmittel gibt.
In Deutschland hingegen müssten selbst Ärzte nach Russland fliegen, um
sich Schutzmasken zu besorgen. Macron hat Masken beschlagnahmen lassen,
um sie an die Mediziner zu verteilen. Bekommen haben sie aber
gewöhnliche Masken ohne Filter mit dem Hinweis, dass diese für Corona
ausreichen würden, was eine komplette Lüge ist. Europa strauchelt. Was
bringt es, Läden und Restaurants zu schließen, wenn Menschen weiterhin
zur Stoßzeit in die U-Bahn oder in den Bus drängen?
Wie kann man dort voneinander Abstand halten? Auch im Supermarkt ist das
kaum möglich. Da würden die Schutzmasken wirklich Menschenleben retten.
Es entsteht wohl eine Zweiklassengesellschaft. Wer ein eigenes Auto hat,
setzt sich weniger Gefahr aus. Selbst gewöhnliche Masken würden viel
helfen, wenn sie von Infizierten getragen werden, da sie dann die Viren
nicht hinausschleudern.
In Deutschland trägt kaum jemand eine Maske. Es gibt zwar vereinzelt
Maskenträger, aber diese sind Asiaten. Meine Landsleute in Deutschland
beklagen sich, dass sie komisch angesehen werden, wenn sie eine Maske
tragen. Hier ist wohl wieder ein kultureller Unterschied am Werk. In
Deutschland herrscht ein Individualismus, der mit dem unverdeckten
Gesicht einhergeht. Masken tragen nur Verbrecher. Wegen der Bilder aus
Korea habe ich mich inzwischen so sehr an den Anblick maskierter
Menschen gewöhnt, dass mir das unverdeckte Gesicht meiner Berliner
Mitbürger fast obszön erscheint. Ich hätte auch so eine Schutzmaske,
aber hier bekomme ich keine.
Die Herstellung von Masken wurde in der Vergangenheit nach China
verlegt. So kommt Europa nicht zu Schutzmasken. Solange Menschen
weiterhin zur Arbeit in die Busse oder U-Bahnen ohne Schutzmasken
drängen, bringt die Ausgangssperre nicht viel. Eine Lehre aus der
Epidemie sollte sein, die Herstellung bestimmter Produkte wie
Schutzmasken oder Medizin- und Pharmaprodukte wieder nach Europa zu holen.
Die Panik angesichts der Corona-Epidemie ist trotz der Gefahr, die man
nicht herunterspielen darf, unverhältnismäßig. Selbst die spanische
Grippe mit viel höherer Letalität hatte keine so verheerenden
Auswirkungen auf die Wirtschaft. Warum reagiert die Welt so maßlos
panisch auf ein Virus?
Emmanuel Macron spricht sogar vom Krieg und vom „unsichtbaren Feind“,
den wir besiegen müssten. Haben wir mit einer Rückkehr des Feindes zu
tun? Die spanische Grippe brach mitten im ersten Weltkrieg aus. Jeder
war damals von Feinden umgeben. Niemand hätte die Epidemie mit einem
Krieg oder Feind in Verbindung gebracht. Heute leben wir in einer ganz
anderen Gesellschaft.
Wir haben sehr lange ohne Feind gelebt. Der Kalte Krieg ist längst
vorbei. In der Vergangenheit rückte auch der islamische Terrorismus
irgendwie in die Ferne. Genau vor zehn Jahren habe ich in dem Essay
„Müdigkeitsgesellschaft“ die These vertreten, dass wir in einer Epoche
leben, in der das immunologische Paradigma nicht mehr gilt, das auf der
Negativität des Feindes beruht.
Die immunologisch organisierte Gesellschaft ist wie zur Zeit des Kalten
Krieges von Grenzen und Zäunen geprägt. Diese verhindern die
beschleunigte Zirkulation von Waren und Kapital. Die Globalisierung baut
all diese Immunschwellen ab, um dem Kapital freie Bahn zu ebnen. Auch
die allgemeine Promiskuität und Permissivität, die heute alle
Lebensbereiche erfassen, bauen die Negativität des Fremden oder des
Feindes ab.
Gefahren drohen heute nicht von der Negativität des Feindes, sondern vom
Übermaß an Positivität, das sich als Überleistung, Überproduktion und
Überkommunikation äußert. Die Negativität des Feindes gehört nicht in
unsere grenzenlos permissive Gesellschaft. Die Repression weicht der
Depression, die Fremdausbeutung der freiwilligen Selbstausbeutung und
Selbstoptimierung. Krieg führt man in der Leistungsgesellschaft in
erster Linie mit sich selbst.
Das Virus bricht plötzlich mitten in die wegen des globalen Kapitalismus
immunologisch stark geschwächte Gesellschaft ein. Aufgeschreckt werden
Schwellen wieder aufgerichtet und Grenzen dicht gemacht. Der Feind ist
wieder da. Krieg führen wir nicht mehr mit uns selbst, sondern mit dem
unsichtbaren Feind von außen. Die maßlose Panik angesichts des Virus ist
eine gesellschaftliche, ja globale Immunreaktion. Sie ist deshalb so
heftig, weil wir sehr lange in einer Gesellschaft ohne Feind, in einer
Gesellschaft der Positivität gelebt haben. Das Virus wird nun als ein
permanenter Terror empfunden.
Es gibt noch einen Grund für die massive Panik. Das hat wieder mit der
Digitalisierung zu tun. Die Digitalisierung baut die Wirklichkeit ab.
Wirklichkeit erfährt man am Widerstand, der auch schmerzen kann. Die
Digitalisierung, die ganze Kultur des Gefällt-mir, baut die Negativität
des Widerstandes ab. Und im postfaktischen Zeitalter mit Fake News oder
Deepfakes entsteht eine Wirklichkeitsapathie. Hier löst das wirkliche
Virus, also kein Computervirus, einen Schock aus. Die Wirklichkeit, der
Widerstand, meldet sich zurück in Form eines feindlichen Virus. Die
heftige, übertriebene Panikreaktion auf das Virus geht auf diesen
Wirklichkeitsschock zurück.
Die Angst vor dem Virus spiegelt vor allem unsere Gesellschaft des
Überlebens wider, in der alle Kräfte des Lebens dafür verwendet werden,
das Leben zu verlängern. Die Sorge ums gute Leben weicht der Hysterie
des Überlebens. Die Gesellschaft des Überlebens ist feindlich gegenüber
dem Genuss. Die Gesundheit stellt ihren höchsten Wert dar. Die Hysterie
des Rauchverbotes ist die Hysterie des Überlebens.
Unsere panische Reaktion legt dieses existentielle Fundament unserer
Gesellschaft bloß. Das Virus macht den Tod wieder sichtbar, den wir ins
Unsichtbare verbannt zu haben glaubten. Angesichts der drohenden Gefahr
des Todes opfern wir bereitwillig alles, was das Leben doch lebenswert
macht. Schon vor der Corona-Epidemie befanden wir uns in einem
erbitterten Krieg ums Überleben.
Der nun ausgebrochene Krieg mit dem Virus ist seine Fortsetzung. Die
Gesellschaft des Überlebens zeigt ihre unmenschlichen Züge. Der andere
ist in erster Linie potentieller Virusträger, vom dem man Abstand zu
nehmen hat, der mein Überleben gefährdet. Dem Kampf ums Überleben ist
die Sorge ums gute Leben entgegenzusetzen. Sonst wird das Leben nach der
Epidemie mehr Überleben als vor der Epidemie. Dann gleichen wir selbst
dem Virus, diesem untoten Wesen, das sich nur vermehrt, nur überlebt,
ohne zu leben.
Die panische Reaktion der Finanzmärkte auf die Epidemie ist auch der
Ausdruck jener Panik, die ihnen bereits inhärent ist. Die extremen
Verwerfungen in der Weltwirtschaft machen diese sehr verwundbar. Die
abenteuerliche Geldpolitik der Notenbanken hat trotz konstant steigender
Kurve des Börsenindexes in den letzten Jahren eine unterdrückte Panik
erzeugt, die auf den Ausbruch wartete.
Das Virus ist wahrscheinlich nur der kleine Tropfen, der das Fass zum
Überlaufen gebracht hat. Die Panik der Finanzmärkte bringt nicht die
Angst vor dem Virus, sondern die Angst vor sich selbst zum Ausdruck. Der
Crash hätte auch ohne Virus kommen können. Vielleicht ist das Virus nur
der Vorbote eines noch größeren Crashs.
Zizek behauptet, das Virus versetze dem Kapitalismus einen tödlichen
Schlag und beschwört einen obskuren Kommunismus. Er glaubt, dass das
Virus Chinas Regime zu Fall bringen würde. Zizek irrt sich. All das wird
nicht stattfinden. China wird seinen digitalen Überwachungsstaat als
Erfolgsmodell gegen die Epidemie verkaufen. China wird die Überlegenheit
seines Systems mit noch mehr Stolz demonstrieren.
Und nach der Epidemie wird der Kapitalismus mit noch mehr Wucht
weitergehen. Touristen werden den Planeten weiterhin tottrampeln. Das
Virus kann die Vernunft nicht ersetzen. Darüber hinaus bekommen wir im
Westen womöglich auch noch den digitalen Überwachungsstaat à la China.
Der Schock ist ein günstiger Moment, er erlaubt, ein neues
Herrschaftssystem zu etablieren. So gingen der Installierung des
Neoliberalismus Krisen voraus. So war es in Korea und in Griechenland.
Nach diesem Virus-Schock bekommt Europa hoffentlich nicht ein digitales
Überwachungsregime à la China. Dann wird der Ausnahmezustand, wie
Giorgio Agamben ihn befürchtet, zum Normalzustand. Dann schafft das
Virus das, was dem islamischen Terrorismus nicht ganz gelungen ist.
Das Virus besiegt den Kapitalismus nicht. Kein Virus ist fähig zur
Revolution. Das Virus vereinzelt uns. Es erzeugt kein starkes
Wir-Gefühl. Jeder ist um sein eigenes Überleben besorgt. Die
Solidarität, voneinander Abstand zu nehmen, ist keine Solidarität, die
von einer anderen, friedlicheren, gerechteren Gesellschaft träumen
ließe. Wir können die Revolution nicht dem Virus überlassen. Hoffen wir,
dass nach dem Virus eine humane Revolution kommt. Es sind WIR MENSCHEN
mit VERNUNFT, die den zerstörerischen Kapitalismus und auch unsere
grenzenlose, destruktive Mobilität überdenken und radikal einschränken
müssen, um uns, das Klima und unseren schönen Planeten zu retten.
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