<html>
<head>
<meta http-equiv="content-type" content="text/html; charset=UTF-8">
</head>
<body>
<div class="css-ov1ktg">(Zo denk ik dus ook over: "Die Solidarität,
voneinander Abstand zu nehmen, ist keine Solidarität, die von
einer anderen, friedlicheren, gerechteren Gesellschaft träumen
ließe. Wir können die Revolution nicht dem Virus überlassen. ")<br>
</div>
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<h1 class="css-1z36ek">„Wir dürfen die Vernunft nicht
dem Virus überlassen“</h1>
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<div class="css-7kp13n">By</div>
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<div>
<div data-qa="Article.Intro"> Warum sind
asiatische Länder uns in der
Virusbekämpfung überlegen? Der Philosoph
Byung-Chul Han über Big Data,
Konfuzianismus und Souveränität </div>
<div data-qa="Article.Text">
<p><span>C</span>orona ist ein Systemtest.
Asien bekommt die Epidemie viel besser
in den Griff als Europa. In Hongkong,
Taiwan und Singapur gibt es nur sehr
wenige Infizierte. <a
name="inlineLink_" title="Bilder,
Videos und Reisetipps zu Taiwan finden
Sie auf unserer Themenseite."
href="https://www.welt.de/themen/taiwan-reisen/">Taiwan</a>
meldet 108, <a name="inlineLink_"
title="Bilder und Informationen zu
Reisen nach Hongkong finden Sie auf
unserer Themenseite."
href="https://www.welt.de/themen/hongkong-staedtereise/">Hongkong</a>
193. In <a name="inlineLink_"
title="Bilder und Informationen zu
Reisen nach Deutschland finden Sie auf
unserer Themenseite."
href="https://www.welt.de/themen/deutschland-reisen/">Deutschland</a>
sind in wesentlich kürzerem Zeitraum
schon 14481 (!) Leute erkrankt (19.
März). Südkorea hat inzwischen das
Schlimmste hinter sich. Japan ebenfalls.
Auch das Ursprungsland der Epidemie <a
name="inlineLink_" title="Bilder und
Informationen zu Reisen nach China
finden Sie auf unserer Themenseite."
href="https://www.welt.de/themen/china-reisen/">China</a>
hat die Epidemie weitgehend unter
Kontrolle gebracht.</p>
<p>Weder Taiwan noch Korea haben aber eine
Ausgangssperre verhängt oder Geschäfte
und Restaurants geschlossen. Inzwischen
hat ein Exodus der Asiaten aus Europa
eingesetzt. Chinesen oder Koreaner
wollen zurück in ihre Heimat, weil sie
sich dort sicherer fühlen. Der Flugpreis
hat sich vervielfacht. Inzwischen ist
kaum ein Flugticket nach China oder
Korea mehr zu bekommen.</p>
<p>Europa strauchelt. Infektionszahlen
steigen exponentiell. Europa scheint die
Epidemie nicht in den Griff zu bekommen.
In <a name="inlineLink_" title="Bilder
und Informationen zu Reisen nach
Italien finden Sie auf unserer
Themenseite."
href="https://www.welt.de/themen/italien-reisen/">Italien</a>
sterben täglich hunderte Menschen.
Ältere Patienten werden vom
Beatmungsgerät abgetrennt, damit
jüngeren geholfen werden kann. Zu
beobachten ist auch ein leerer
Aktionismus. Grenzschließungen sind
verzweifelter Ausdruck der Souveränität.
Wir fühlen uns ins Zeitalter der
Souveränität zurückversetzt. Souverän
ist, wer über den Ausnahmezustand
entscheidet. Souverän ist, wer Grenzen
schließt.</p>
<div> </div>
<p>Das ist allerdings eine leere
Souveränitätsschau, die nichts bewirkt.
Intensive Kooperationen innerhalb der
Euro würden viel mehr helfen. Die EU hat
ein Einreiseverbot für Ausländer
verhängt, ein total sinnloser Akt
angesichts der Tatsache, dass niemand
nach Europa kommen will. Sinnvoller
wäre, wenn überhaupt, ein Ausreiseverbot
für Europäer, um die Welt vor Europa zu
schützen. Europa ist ja gegenwärtig der
Hotspot der Epidemie.</p>
<p>Was für Systemvorteile hat Asien
gegenüber Europa, die sich als positiv
für die Bekämpfung der Epidemie
erweisen? Staaten wie Japan, Korea,
China, Hongkong, Taiwan oder Singapur,
sind, schon kulturell bedingt
(Konfuzianismus), autoritär. Die
Menschen sind folg- und gehorsamer als
in Europa. Sie haben mehr Vertrauen in
den Staat. Und das Alltagsleben ist
wesentlich strenger organisiert, nicht
nur in China, sondern auch in Korea oder
Japan. Vor allem setzen die Asiaten
gegen das Virus massiv auf die digitale
Überwachung. In Big Data vermuten sie
ein riesiges Potential gegen die
Epidemie.</p>
<p>Man könnte sagen, in Asien werden
Epidemien nicht nur durch Virologen oder
Epidemiologen, sondern vor allem durch
Informatiker und Big-Data-Spezialisten
bekämpft. Ein Paradigmenwechsel, der in
Europa noch nicht wahrgenommen wird. Big
Data rettet Menschenleben, würden die
Apologeten der digitalen Überwachung
ausrufen.</p>
<div> </div>
<p>In Asien existiert kaum ein kritisches
Bewusstsein gegen die digitale
Überwachung. Vom Datenschutz redet man
kaum noch, selbst in liberalen Staaten
wie Japan und Korea. Niemand lehnt sich
auf gegen die Datensammelwut der
Behörden. China hat inzwischen ein für
Europäer unvorstellbares
Social-Scoring-System eingeführt, das
eine umfassende Bürgerevaluation
erlaubt.</p>
<p>Jeder Bürger soll in seinem sozialen
Verhalten konsequent bewertet werden. Es
gibt in China keinen unbeobachteten
Moment im. Jeder Klick, jeder Kauf,
jeder Kontakt, jede Aktivität in den
Sozialen Netzwerken wird kontrolliert.
Wer die rote Ampel überfährt, wer mit
regimekritischen Personen verkehrt oder
kritische Kommentare in den Sozialen
Medien postet, bekommt Minuspunkte. Das
Leben kann dann sehr gefährlich werden.</p>
<p>Wer hingegen übers Internet gesunde
Nahrungsmittel kauft oder parteinahe
Zeitungen liest, bekommt Pluspunkte. Wer
über genügende Pluspunkte verfügt,
erhält ein Reisevisum ober günstige <a
name="inlineLink_" title="News und
Hintergründe rund um Kredite finden
Sie in unserem Themenspecial."
href="https://www.welt.de/themen/kredit/">Kredite</a>.
Wer hingegen unter eine bestimmte
Punktzahl fällt, könnte seinen Job
verlieren. In China ist diese soziale
Überwachung möglich, weil ein
uneingeschränkter Datenaustausch
zwischen Internet- und
Mobilfunkanbietern und Behörden
stattfindet. Es existiert praktisch kein
Datenschutz. Das Wort „Privatsphäre“
gehört nicht ins Vokabular der Chinesen.</p>
<div>
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</div>
</div>
<div> </div>
<p>In China gibt es 200 Millionen
Überwachungskameras, teilweise mit
hocheffizienter
Gesichtserkennungstechnik ausgestattet.
Sie erfassen sogar Leberflecken. Es ist
nicht möglich, der Überwachungskamera zu
entkommen. Diese mit künstlicher
Intelligenz ausgestatteten Kameras
können jeden Bürger in den Geschäften,
auf den Straßen, auf Bahnhöfen und
Flughafen beobachten und bewerten.</p>
<p>Die Infrastruktur zur digitalen
Überwachung erweist sich nun als
hochwirksam gegen die Eindämmung der
Epidemie. Wenn jemand am Pekinger
Bahnhof rauskommt, wird er automatisch
von einer Kamera erfasst, die seine
Körpertemperatur misst. Bei auffälligen
Werten werden automatisch jene Personen
per Handy informiert, die im gleichen
Waggon saßen.</p>
<p>In den sozialen Medien wird sogar über
Drohneneinsatz zur Überwachung der
Quarantänen berichtet. Wenn jemand
heimlich seine Quarantäne verlässt,
kommt eine Drohne angeflogen, die ihn
dazu auffordert, in die Wohnung
zurückzukehren. Vielleicht druckt sie
sogar einen Bußgeldbescheid aus und
lässt ihn auf die Person heruntersegeln,
wer weiß. Ein für Europäer dystopischer
Zustand, der in China offenbar auf
keinen Widerstand stößt.</p>
<p>In Asien herrscht Kollektivismus. Es
gibt keinen ausgeprägten
Individualismus. Der Individualismus ist
etwas anderes als der Egoismus, der
natürlich auch in Asien grassiert.</p>
<p>Big Data ist zur Virusbekämpfung
effizienter als sinnlose
Grenzschließungen, die gegenwärtig von
Europäern vorgenommen werden. Allerdings
ist in Europa aufgrund von Datenschutz
eine vergleichbare digitale Bekämpfung
des Virus nicht möglich. Chinesische
Mobilfunk- und Internetanbieter teilen
die sensiblen Daten ihrer Kunden mit den
Sicherheitsbehörden und
Gesundheitsämtern.</p>
<p>Der Staat weiß, wo ich bin, mit wem ich
mich treffe, was ich mache, wonach ich
suche, woran ich denke, was ich esse,
was ich kaufe, wohin ich mich bewege. In
Zukunft werden womöglich auch
Körpertemperatur, Gewicht,
Blutzuckerwerte etc. kontrolliert. Eine
digitale Biopolitik, die mit der
digitalen Psychopolitik einhergeht, die
die Menschen aktiv steuert.</p>
<p>In Wuhan wurden tausende digitale
Ermittlungsteams gebildet, die
potentielle Infizierte aufspüren. Allein
anhand der Big Data-Analyse finden sie
heraus, wer potenzielle Infizierte sind,
wer weiterhin beobachtet und eventuell
in der Quarantäne isoliert werden muss.
Die Zukunft liegt, auch in Bezug auf die
Epidemie, in der Digitalisierung.
Angesichts der Epidemie sollten wir
vielleicht sogar die Souveränität neu
definieren. Souverän ist, wer über Daten
verfügt. Europa hängt noch an alten
Souveränitätsmodellen, wenn es den
Ausnahmezustand ausruft oder Grenzen
schließt.</p>
<div>
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</div>
</div>
<p>Nicht nur in China, sondern auch in
anderen asiatischen Ländern wird die
digitale Überwachung zur Eindämmung der
Epidemie genutzt. In Taiwan schickt der
Staat allen Bürgern gleichzeitig eine
SMS, um Kontaktpersonen zu ermitteln
oder Menschen über Orte und Gebäude zu
informieren, wo sich Infizierte
aufgehalten haben. Taiwan hat frühzeitig
unterschiedliche Daten miteinander
verknüpft, um potentielle Infizierte
anhand ihrer Reisetätigkeiten zu
ermitteln.</p>
<p>Wer sich in Korea einem Gebäude nähert,
in dem sich ein Infizierter aufgehalten
hat, bekommt per Corona-App einen
Warnalarm. Alle Orte, die von
Infizierten aufgesucht wurden, sind in
der <a name="inlineLink_" title="News,
Testberichte und Hintergründe zu Apps
finden Sie in unserem Themenspecial."
href="https://www.welt.de/themen/apps/">App</a> erfasst. In Korea sind
in jedem Gebäude im jedem Stock, über
jedem Büro oder Laden
Überwachungskameras installiert. Es ist
praktisch unmöglich, sich in der
Öffentlichkeit zu bewegen, ohne von der
Videokamera aufgezeichnet zu werden.</p>
<p>Zusammen mit Handydaten lässt sich mit
dem aufgezeichneten Videomaterial das
komplette Bewegungsprofil herstellen.
Bewegungsabläufe aller Infizierten
werden veröffentlicht. Da können schon
mal heimliche Liebschaften auffliegen.
In koreanischen Gesundheitsämtern gibt
es sogenannte „Tracker“, die sich Tag
und Nacht das aufgezeichnete
Videomaterial anschauen, um das
Bewegungsprofil der Infizierten zu
vervollständigen und Kontaktpersonen
aufzuspüren.</p>
<p>Ein auffälliger Unterschied zwischen
Asien und Europa sind Schutzmasken. In
Korea gibt es praktisch niemanden, der
ohne Atemmasken herumläuft, die Viren
herausfiltern können. Es handelt sich
nicht um gewöhnliche chirurgische
Masken, sondern um spezielle
Schutzmasken mit Filtern, die auch Ärzte
tragen. In den letzten Wochen war die
Versorgung der Bevölkerung mit Masken in
Korea das Thema Nr. 1.</p>
<p>Vor Apotheken bildeten sich riesige <a
name="inlineLink_" title="Bilder und
Informationen zu Schlangen finden Sie
in unserem Themenspecial."
href="https://www.welt.de/themen/schlangen/">Schlangen</a>.
Politiker wurden daran gemessen, wie
effizient sie die Bevölkerung mit
Schutzmasken versorgen. Neue Maschinen
zur Herstellung von Masken wurden in
Eile gebaut. Im Moment scheint die
Versorgung gut zu klappen. Es existiert
inzwischen eine App, die informiert, in
welcher Apotheke in der Nähe noch Masken
zu bekommen sind. Ich denke, dass
Schutzmasken, mit denen in Asien die
ganze Bevölkerung versorgt wird,
entscheidend zur Eindämmung der Epidemie
beigetragen haben.</p>
<p>Koreaner tragen selbst am Arbeitsplatz
Schutzmasken. Politiker treten nur mit
Schutzmasken öffentlich auf. Der
koreanische Präsident trägt demonstrativ
die Maske, selbst in der
Pressekonferenz. In Korea wird man
regelrecht beschimpft, wenn man keine
Maske trägt. In Deutschland hört man
hingegen, dass die Masken nicht viel
helfen würden, was Schwachsinn ist.
Warum tragen dann die Ärzte die
Schutzmasken?</p>
<p>Die Masken muss man nur häufig genug
wechseln, sie verlieren die
Filterfunktion, wenn sie feucht werden.
Aber inzwischen haben die Koreaner eine
„Corona-Maske“ mit Nano-Filtern
entwickelt, die man sogar waschen kann.
Sie könnte Menschen vor Viren schützen
für einen Monat, eigentlich eine sehr
gute Lösung, solange es keine Impfung
und auch kein Heilmittel gibt.</p>
<p>In Deutschland hingegen müssten selbst
Ärzte nach Russland fliegen, um sich
Schutzmasken zu besorgen. Macron hat
Masken beschlagnahmen lassen, um sie an
die Mediziner zu verteilen. Bekommen
haben sie aber gewöhnliche Masken ohne
Filter mit dem Hinweis, dass diese für
Corona ausreichen würden, was eine
komplette Lüge ist. Europa strauchelt.
Was bringt es, Läden und Restaurants zu
schließen, wenn Menschen weiterhin zur
Stoßzeit in die U-Bahn oder in den Bus
drängen?</p>
<div> </div>
<p>Wie kann man dort voneinander Abstand
halten? Auch im Supermarkt ist das kaum
möglich. Da würden die Schutzmasken
wirklich Menschenleben retten. Es
entsteht wohl eine
Zweiklassengesellschaft. Wer ein eigenes
Auto hat, setzt sich weniger Gefahr aus.
Selbst gewöhnliche Masken würden viel
helfen, wenn sie von Infizierten
getragen werden, da sie dann die Viren
nicht hinausschleudern.</p>
<p>In Deutschland trägt kaum jemand eine
Maske. Es gibt zwar vereinzelt
Maskenträger, aber diese sind Asiaten.
Meine Landsleute in Deutschland beklagen
sich, dass sie komisch angesehen werden,
wenn sie eine Maske tragen. Hier ist
wohl wieder ein kultureller Unterschied
am Werk. In Deutschland herrscht ein
Individualismus, der mit dem
unverdeckten Gesicht einhergeht. Masken
tragen nur Verbrecher. Wegen der Bilder
aus Korea habe ich mich inzwischen so
sehr an den Anblick maskierter Menschen
gewöhnt, dass mir das unverdeckte
Gesicht meiner Berliner Mitbürger fast
obszön erscheint. Ich hätte auch so eine
Schutzmaske, aber hier bekomme ich
keine.</p>
<p>Die Herstellung von Masken wurde in der
Vergangenheit nach China verlegt. So
kommt Europa nicht zu Schutzmasken.
Solange Menschen weiterhin zur Arbeit in
die Busse oder U-Bahnen ohne
Schutzmasken drängen, bringt die
Ausgangssperre nicht viel. Eine Lehre
aus der Epidemie sollte sein, die
Herstellung bestimmter Produkte wie
Schutzmasken oder Medizin- und
Pharmaprodukte wieder nach Europa zu
holen.</p>
<p>Die Panik angesichts der
Corona-Epidemie ist trotz der Gefahr,
die man nicht herunterspielen darf,
unverhältnismäßig. Selbst die spanische
Grippe mit viel höherer Letalität hatte
keine so verheerenden Auswirkungen auf
die Wirtschaft. Warum reagiert die Welt
so maßlos panisch auf ein Virus?</p>
<p>Emmanuel Macron spricht sogar vom Krieg
und vom „unsichtbaren Feind“, den wir
besiegen müssten. Haben wir mit einer
Rückkehr des Feindes zu tun? Die
spanische Grippe brach mitten im ersten
Weltkrieg aus. Jeder war damals von
Feinden umgeben. Niemand hätte die
Epidemie mit einem Krieg oder Feind in
Verbindung gebracht. Heute leben wir in
einer ganz anderen Gesellschaft.</p>
<p>Wir haben sehr lange ohne Feind gelebt.
Der Kalte Krieg ist längst vorbei. In
der Vergangenheit rückte auch der
islamische Terrorismus irgendwie in die
Ferne. Genau vor zehn Jahren habe ich in
dem Essay „Müdigkeitsgesellschaft“ die
These vertreten, dass wir in einer
Epoche leben, in der das immunologische
Paradigma nicht mehr gilt, das auf der
Negativität des Feindes beruht.</p>
<div> </div>
<p>Die immunologisch organisierte
Gesellschaft ist wie zur Zeit des Kalten
Krieges von Grenzen und Zäunen geprägt.
Diese verhindern die beschleunigte
Zirkulation von Waren und Kapital. Die
Globalisierung baut all diese
Immunschwellen ab, um dem Kapital freie
Bahn zu ebnen. Auch die allgemeine
Promiskuität und Permissivität, die
heute alle Lebensbereiche erfassen,
bauen die Negativität des Fremden oder
des Feindes ab.</p>
<p>Gefahren drohen heute nicht von der
Negativität des Feindes, sondern vom
Übermaß an Positivität, das sich als
Überleistung, Überproduktion und
Überkommunikation äußert. Die
Negativität des Feindes gehört nicht in
unsere grenzenlos permissive
Gesellschaft. Die Repression weicht der
Depression, die Fremdausbeutung der
freiwilligen Selbstausbeutung und
Selbstoptimierung. Krieg führt man in
der Leistungsgesellschaft in erster
Linie mit sich selbst.</p>
<p>Das Virus bricht plötzlich mitten in
die wegen des globalen Kapitalismus
immunologisch stark geschwächte
Gesellschaft ein. Aufgeschreckt werden
Schwellen wieder aufgerichtet und
Grenzen dicht gemacht. Der Feind ist
wieder da. Krieg führen wir nicht mehr
mit uns selbst, sondern mit dem
unsichtbaren Feind von außen. Die
maßlose Panik angesichts des Virus ist
eine gesellschaftliche, ja globale
Immunreaktion. Sie ist deshalb so
heftig, weil wir sehr lange in einer
Gesellschaft ohne Feind, in einer
Gesellschaft der Positivität gelebt
haben. Das Virus wird nun als ein
permanenter Terror empfunden.</p>
<p>Es gibt noch einen Grund für die
massive Panik. Das hat wieder mit der
Digitalisierung zu tun. Die
Digitalisierung baut die Wirklichkeit
ab. Wirklichkeit erfährt man am
Widerstand, der auch schmerzen kann. Die
Digitalisierung, die ganze Kultur des
Gefällt-mir, baut die Negativität des
Widerstandes ab. Und im postfaktischen
Zeitalter mit Fake News oder Deepfakes
entsteht eine Wirklichkeitsapathie. Hier
löst das wirkliche Virus, also kein
Computervirus, einen Schock aus. Die
Wirklichkeit, der Widerstand, meldet
sich zurück in Form eines feindlichen
Virus. Die heftige, übertriebene
Panikreaktion auf das Virus geht auf
diesen Wirklichkeitsschock zurück.</p>
<p>Die Angst vor dem Virus spiegelt vor
allem unsere Gesellschaft des Überlebens
wider, in der alle Kräfte des Lebens
dafür verwendet werden, das Leben zu
verlängern. Die Sorge ums gute Leben
weicht der Hysterie des Überlebens. Die
Gesellschaft des Überlebens ist
feindlich gegenüber dem Genuss. Die
Gesundheit stellt ihren höchsten Wert
dar. Die Hysterie des Rauchverbotes ist
die Hysterie des Überlebens.</p>
<p>Unsere panische Reaktion legt dieses
existentielle Fundament unserer
Gesellschaft bloß. Das Virus macht den
Tod wieder sichtbar, den wir ins
Unsichtbare verbannt zu haben glaubten.
Angesichts der drohenden Gefahr des
Todes opfern wir bereitwillig alles, was
das Leben doch lebenswert macht. Schon
vor der Corona-Epidemie befanden wir uns
in einem erbitterten Krieg ums
Überleben.</p>
<p>Der nun ausgebrochene Krieg mit dem
Virus ist seine Fortsetzung. Die
Gesellschaft des Überlebens zeigt ihre
unmenschlichen Züge. Der andere ist in
erster Linie potentieller Virusträger,
vom dem man Abstand zu nehmen hat, der
mein Überleben gefährdet. Dem Kampf ums
Überleben ist die Sorge ums gute Leben
entgegenzusetzen. Sonst wird das Leben
nach der Epidemie mehr Überleben als vor
der Epidemie. Dann gleichen wir selbst
dem Virus, diesem untoten Wesen, das
sich nur vermehrt, nur überlebt, ohne zu
leben.</p>
<p>Die panische Reaktion der Finanzmärkte
auf die Epidemie ist auch der Ausdruck
jener Panik, die ihnen bereits inhärent
ist. Die extremen Verwerfungen in der
Weltwirtschaft machen diese sehr
verwundbar. Die abenteuerliche
Geldpolitik der Notenbanken hat trotz
konstant steigender Kurve des
Börsenindexes in den letzten Jahren eine
unterdrückte Panik erzeugt, die auf den
Ausbruch wartete.</p>
<p>Das Virus ist wahrscheinlich nur der
kleine Tropfen, der das Fass zum
Überlaufen gebracht hat. Die Panik der
Finanzmärkte bringt nicht die Angst vor
dem Virus, sondern die Angst vor sich
selbst zum Ausdruck. Der Crash hätte
auch ohne Virus kommen können.
Vielleicht ist das Virus nur der Vorbote
eines noch größeren Crashs.</p>
<p>Zizek behauptet, das Virus versetze dem
Kapitalismus einen tödlichen Schlag und
beschwört einen obskuren Kommunismus. Er
glaubt, dass das Virus Chinas Regime zu
Fall bringen würde. Zizek irrt sich. All
das wird nicht stattfinden. China wird
seinen digitalen Überwachungsstaat als
Erfolgsmodell gegen die Epidemie
verkaufen. China wird die Überlegenheit
seines Systems mit noch mehr Stolz
demonstrieren.</p>
<p>Und nach der Epidemie wird der
Kapitalismus mit noch mehr Wucht
weitergehen. Touristen werden den
Planeten weiterhin tottrampeln. Das
Virus kann die Vernunft nicht ersetzen.
Darüber hinaus bekommen wir im Westen
womöglich auch noch den digitalen
Überwachungsstaat à la China.</p>
<p>Der Schock ist ein günstiger Moment, er
erlaubt, ein neues Herrschaftssystem zu
etablieren. So gingen der Installierung
des Neoliberalismus Krisen voraus. So
war es in Korea und in Griechenland.
Nach diesem Virus-Schock bekommt Europa
hoffentlich nicht ein digitales
Überwachungsregime à la China. Dann wird
der Ausnahmezustand, wie Giorgio Agamben
ihn befürchtet, zum Normalzustand. Dann
schafft das Virus das, was dem
islamischen Terrorismus nicht ganz
gelungen ist.</p>
<p>Das Virus besiegt den Kapitalismus
nicht. Kein Virus ist fähig zur
Revolution. Das Virus vereinzelt uns. Es
erzeugt kein starkes Wir-Gefühl. Jeder
ist um sein eigenes Überleben besorgt.
Die Solidarität, voneinander Abstand zu
nehmen, ist keine Solidarität, die von
einer anderen, friedlicheren,
gerechteren Gesellschaft träumen ließe.
Wir können die Revolution nicht dem
Virus überlassen. Hoffen wir, dass nach
dem Virus eine humane Revolution kommt.
Es sind WIR MENSCHEN mit VERNUNFT, die
den zerstörerischen Kapitalismus und
auch unsere grenzenlose, destruktive
Mobilität überdenken und radikal
einschränken müssen, um uns, das Klima
und unseren schönen Planeten zu retten.</p>
</div>
</div>
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