[D66] [JD: 96] Im Zweifel dagegen | FAZ
R.O.
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Sat May 29 16:49:40 CEST 2021
* 29 May 2021
* Frankfurter Allgemeine Zeitung
* Von Leonie Feuerbach
Im Zweifel dagegen
Millionen Deutsche warten sehnsüchtig auf einen Termin – manche aber
wollen sich nicht impfen lassen. Warum?
Claudia Müllers Profilbild bei Whatsapp zeigt eine blonde Frau Ende 40
mit breitem Lächeln, der die Sonne ins Gesicht scheint. Müller ist eine
passionierte Lehrerin mit großem Freundeskreis, fährt gerne Ski und
klingt am Telefon fröhlich und selbstsicher. Sie hat einem Gespräch
zugestimmt, weil sie findet, dass ihre Meinung zu den Corona-Impfungen
in den Medien nicht genug vorkommt. Obwohl sie tagtäglich Dutzende
Schüler unterrichtet, will sich Claudia Müller nicht gegen das Virus
impfen lassen. „Da werden Impfstoffe zugelassen, für die man
normalerweise zehn Jahre braucht“, sagt Claudia Müller. „Man weiß nichts
über Langzeitfolgen, Nebenwirkungen, Spätfolgen.“
/Foto dpa /Bloß keine Spritze: Eine Frau auf einer Querdenker-Demo im
Mai 2020 in Stuttgart – nicht nur Impfgegner, sondern auch Impfskeptiker
behindern die Herdenimmunität.
Wie Claudia Müller sehen es ein Viertel der Deutschen über 18 Jahre, die
sich laut einer aktuellen Umfrage nicht impfen lassen wollen. Das klingt
nicht viel. Doch mathematische Modelle gehen davon aus, dass die
Pandemie erst bei einer Immunität um 80 Prozent endet, und noch ist
unklar, wie die Impfbereitschaft bei den Zwölf- bis Siebzehnjährigen
aussieht. Jüngere, Schwangere und manche Vorerkrankte können oder sollen
sich nicht impfen lassen. Um Herdenimmunität zu erreichen, müssen sich
also noch ziemlich viele Impfskeptiker umentscheiden. Wie stehen die
Chancen, dass das passiert?
Claudia Müller gehört nicht zu den höchstens fünf Prozent der
überzeugten Impfgegner. Sondern zu den restlichen rund 20 Prozent der
Corona-Impfunwilligen. Sie zweifelt weder an der Existenz der Pandemie
noch am grundsätzlichen Nutzen von Impfungen.*Sie hält sich für gut
informiert, weist eine Tendenz zu Verschwörungserzählungen von sich –
und schließt eine Impfung doch aus. Wieso?*
Sie kennt ein paar Leute, die eine Corona-Infektion gut überstanden
haben. Deshalb erscheint ihr das Risiko, Corona zu bekommen, geringer
als das, sich impfen zu lassen und möglicherweise unter Nebenwirkungen
zu leiden. Sie erinnert sich noch gut an die ebenfalls unter Hochdruck
entwickelte Impfung gegen Schweinegrippe, die in sehr seltenen Fällen
zur Schlafkrankheit Narkolepsie führte. Gegen Masern und Tetanus ist
Müller zwar geimpft. Sie glaubt aber trotzdem, dass die
Selbstheilungskräfte besser wirken, je weniger man in den menschlichen
Organismus eingreift. Deshalb nimmt sie auch nur selten Medikamente. Das
Schnellverfahren bei der Zulassung der Corona-Impfstoffe macht sie
misstrauisch. Und auch, dass nun weiter beobachtet wird, wie die
Reaktionen auf die Impfung sind. „Das ist ja ein Vorteil für die
Impfstoffhersteller“, sagt sie. „Die können impfen und parallel testen.
Ich möchte mich dafür einfach nicht zur Verfügung stellen.“
*Claudia Müller kann nicht verstehen, warum sie keine kritischen Stimmen
zur Impfung in den Medien hört. *Erst als die Nebenwirkungen von
AstraZeneca so deutlich geworden seien, dass es nicht mehr möglich war,
sie weiter zu verharmlosen, habe sich das geändert. „Aber im Allgemeinen
wird nicht öffentlich infrage gestellt, ob die Corona-Impfung angebracht
ist oder nicht. Keiner aus der Regierung, kein Arzt: Es ist einfach
niemand im Fernsehen zu sehen, der sich dagegen ausspricht.“Die meisten
Leute gingen wohl davon aus, dass es dafür gute Gründe gibt. Müller
hingegen macht die Einhelligkeit misstrauisch. Gegenüber den Medien, den
Politikern, den Virologen. Und vor allem gegenüber der Pharmaindustrie.
Ist Claudia Müller repräsentativ für andere Impfskeptiker? Die
Cosmo-Studie der Universität Erfurt, die alle zwei Wochen 1000 Menschen
zum Impfen befragt, deutet darauf hin. Sie ergab, dass die
Impfbereitschaft von Menschen unter anderem davon abhängig ist, als wie
sicher und effektiv sie die Impfung empfinden, wie gut sie sich rund um
die Impfung informiert fühlen, als wie bedrohlich sie die Krankheit
einschätzen und wie sehr sie gesellschaftliche Verantwortung spüren.
Claudia Müller hält die Impfung für unsicher, eine Corona-Erkrankung für
eher ungefährlich und die Berichterstattung für unausgewogen. Eine
gesellschaftliche Verantwortung, sich als Lehrerin impfen zu lassen,
sieht sie nicht.
Andere Impfskeptiker äußern sich im Gespräch ähnlich wie Claudia Müller.
Sie schätzen ihr eigenes Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken, als
gering ein, weil sie sich gesund ernähren, viel bewegen. Sich nicht
impfen zu lassen ist für sie eine individuelle Entscheidung, die nichts
mit mangelnder Solidarität zu tun hat. Sie verorten sich politisch eher
linksliberal als konservativ. In ihrem Liberalismus schwingt ein starker
Individualismus mit, also die Idee, dass jeder und jede letztlich für
sich selbst verantwortlich ist. Sie sind teils anthroposophisch geprägt,
glauben, dass es sinnvoll und stärkend sein kann, Kinderkrankheiten
durchzumachen. Und dass Impfungen einerseits sicherlich dazu beigetragen
haben, gefährliche Krankheiten auszurotten. Dass aber andererseits
Krankheiten wie Diphtherie ihre Hochzeit vor 100 Jahren hatten, als die
Hygienesituation noch eine ganz andere war.
Claudia Müller und andere Impfskeptiker bilden sich ihre Meinung oft
nicht auf Grundlage von Nachrichten oder politischen Talkshows, sondern
suchen im Internet gezielt nach Informationen, die ihre Meinung
bestätigen – und nicht nach solchen, die ihre Meinung widerlegen
könnten. Dabei bewegen sie sich in anderen Ecken des Internets als die
Querdenker. Sie schicken sich per Mail Links zu einer
Arte-Dokumentation, die den schwedischen Weg in der Corona-Krise lobt,
oder per Whatsapp, was die Heilpraktikerin einer Freundin zu
mRNA-Impfstoffen gesagt hat. Eine Frau verweist auf die „Ärzte für eine
individuelle Impfentscheidung“, einen Verein, den sie als neutral und
ausgewogen empfindet, bei dem aber vor allem Homöopathen und
Anthroposophen engagiert sind und dessen Ansichten das
Paul-Ehrlich-Institut im vergangenen November in einer Stellungnahme
zurückgewiesen hat.
Auch Claudia Müller achtet darauf, wer bestimmte Texte verfasst.
Manchmal besucht sie die Seite „Multipolar“, auf der sich Autoren
kritisch zur Pandemie äußern, manche von ihnen, das ist ihr wichtig,
sind Professoren. Habilitiert sind sie aber nicht in Medizin, sondern
etwa in Politikwissenschaft. Und die Herausgeber von „Multipolar“sind
zwar nicht unbedingt selbst Verschwörungsideologen, werben aber auf der
vom Verfassungsschutz wohl als Verdachtsfall eingestuften Plattform
„KenFM“um Spenden.
Claudia Müller streitet sich in letzter Zeit öfter mit einer guten
Freundin, die ihr vorwirft, sich nicht impfen zu lassen sei unvernünftig
und unsolidarisch. Andere Impfskeptiker führen heftige Diskussionen mit
ihren Kindern oder Geschwistern. Wie werden sie sich in den nächsten
Monaten verhalten? Das ist schwer zu sagen. Generalisierbare Aussagen
über Impfskeptiker lässt auch die Cosmo-Studie kaum zu. Sarah Eitze,
Ko-Autorin der Studie, meint aber, da inzwischen mehr als 40 Prozent der
Bevölkerung erstgeimpft seien, kenne fast jeder schon Geimpfte. Das
könne dazu führen, dass sich die Skepsis langsam verliere.
Sollten in den nächsten Jahren keine neuen seltenen Nebenwirkungen
bekannt werden, will Claudia Müller darüber nachdenken, sich impfen zu
lassen. Eine andere Frau sagt, sie würde sich nur gegen Corona impfen
lassen, wenn sie das Leben, wie sie es kennt und mag, ungeimpft nicht
mehr führen könnte. Eine Dritte, auch sie Lehrerin, hat entschieden,
sich trotz ihrer Impfskepsis gegen das Virus immunisieren zu lassen. Als
die zweite Corona-Welle wütete, begann sie zu ahnen, dass das Virus
womöglich doch mehr Schaden anrichtet als die Impfung.
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