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<ul class="art-meta">
<li>29 May 2021</li>
<li>Frankfurter Allgemeine Zeitung</li>
<li>Von Leonie Feuerbach</li>
</ul>
<h1>Im Zweifel dagegen </h1>
<div id="toolbar_panel" class="art-tools"><a class="button b-zoom"><span><br>
</span></a><a class="button b-translate b-exp"><span></span></a><span
class="slider"><span></span></span></div>
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<h2>Millionen Deutsche warten sehnsüchtig auf einen Termin –
manche aber wollen sich nicht impfen lassen. Warum?</h2>
<p>
Claudia Müllers Profilbild bei Whatsapp zeigt eine blonde Frau
Ende 40 mit breitem Lächeln, der die Sonne ins Gesicht
scheint. Müller ist eine passionierte Lehrerin mit großem
Freundeskreis, fährt gerne Ski und klingt am Telefon fröhlich
und selbstsicher. Sie hat einem Gespräch zugestimmt, weil sie
findet, dass ihre Meinung zu den Corona-Impfungen in den
Medien nicht genug vorkommt. Obwohl sie tagtäglich Dutzende
Schüler unterrichtet, will sich Claudia Müller nicht gegen das
Virus impfen lassen. „Da werden Impfstoffe zugelassen, für die
man normalerweise zehn Jahre braucht“, sagt Claudia Müller.
„Man weiß nichts über Langzeitfolgen, Nebenwirkungen,
Spätfolgen.“ </p>
<span class="art-object art-mainimage" id="artObjectWrap"
style="height: 28.8em;"><a><img
src="https://i.prcdn.co/img?regionguid=7c0358c5-cd7c-43e5-8320-050ec8dea6ef&scale=118&file=30052021052900000000001001®ionKey=5fakdgGBSXH%2fns5XqardZA%3d%3d"
style="width:100%;" id="artObject"><em>Foto dpa </em></a></span><span
class="art-imagetext">Bloß keine Spritze: Eine Frau auf einer
Querdenker-Demo im Mai 2020 in Stuttgart – nicht nur
Impfgegner, sondern auch Impfskeptiker behindern die
Herdenimmunität.</span>
<p>
Wie Claudia Müller sehen es ein Viertel der Deutschen über 18
Jahre, die sich laut einer aktuellen Umfrage nicht impfen
lassen wollen. Das klingt nicht viel. Doch mathematische
Modelle gehen davon aus, dass die Pandemie erst bei einer
Immunität um 80 Prozent endet, und noch ist unklar, wie die
Impfbereitschaft bei den Zwölf- bis Siebzehnjährigen aussieht.
Jüngere, Schwangere und manche Vorerkrankte können oder sollen
sich nicht impfen lassen. Um Herdenimmunität zu erreichen,
müssen sich also noch ziemlich viele Impfskeptiker
umentscheiden. Wie stehen die Chancen, dass das passiert? </p>
<p>
Claudia Müller gehört nicht zu den höchstens fünf Prozent der
überzeugten Impfgegner. Sondern zu den restlichen rund 20
Prozent der Corona-Impfunwilligen. Sie zweifelt weder an der
Existenz der Pandemie noch am grundsätzlichen Nutzen von
Impfungen.<b> Sie hält sich für gut informiert, weist eine
Tendenz zu Verschwörungserzählungen von sich – und schließt
eine Impfung doch aus. Wieso?</b> </p>
<p>
Sie kennt ein paar Leute, die eine Corona-Infektion gut
überstanden haben. Deshalb erscheint ihr das Risiko, Corona zu
bekommen, geringer als das, sich impfen zu lassen und
möglicherweise unter Nebenwirkungen zu leiden. Sie erinnert
sich noch gut an die ebenfalls unter Hochdruck entwickelte
Impfung gegen Schweinegrippe, die in sehr seltenen Fällen zur
Schlafkrankheit Narkolepsie führte. Gegen Masern und Tetanus
ist Müller zwar geimpft. Sie glaubt aber trotzdem, dass die
Selbstheilungskräfte besser wirken, je weniger man in den
menschlichen Organismus eingreift. Deshalb nimmt sie auch nur
selten Medikamente. Das Schnellverfahren bei der Zulassung der
Corona-Impfstoffe macht sie misstrauisch. Und auch, dass nun
weiter beobachtet wird, wie die Reaktionen auf die Impfung
sind. „Das ist ja ein Vorteil für die Impfstoffhersteller“,
sagt sie. „Die können impfen und parallel testen. Ich möchte
mich dafür einfach nicht zur Verfügung stellen.“ </p>
</div>
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<p>
<b>Claudia Müller kann nicht verstehen, warum sie keine
kritischen Stimmen zur Impfung in den Medien hört. </b>Erst
als die Nebenwirkungen von AstraZeneca so deutlich geworden
seien, dass es nicht mehr möglich war, sie weiter zu
verharmlosen, habe sich das geändert. „Aber im Allgemeinen
wird nicht öffentlich infrage gestellt, ob die Corona-Impfung
angebracht ist oder nicht. Keiner aus der Regierung, kein
Arzt: Es ist einfach niemand im Fernsehen zu sehen, der sich
dagegen ausspricht.“Die meisten Leute gingen wohl davon aus,
dass es dafür gute Gründe gibt. Müller hingegen macht die
Einhelligkeit misstrauisch. Gegenüber den Medien, den
Politikern, den Virologen. Und vor allem gegenüber der
Pharmaindustrie. </p>
<p> Ist Claudia Müller repräsentativ für andere Impfskeptiker?
Die Cosmo-Studie der Universität Erfurt, die alle zwei Wochen
1000 Menschen zum Impfen befragt, deutet darauf hin. Sie
ergab, dass die Impfbereitschaft von Menschen unter anderem
davon abhängig ist, als wie sicher und effektiv sie die
Impfung empfinden, wie gut sie sich rund um die Impfung
informiert fühlen, als wie bedrohlich sie die Krankheit
einschätzen und wie sehr sie gesellschaftliche Verantwortung
spüren. Claudia Müller hält die Impfung für unsicher, eine
Corona-Erkrankung für eher ungefährlich und die
Berichterstattung für unausgewogen. Eine gesellschaftliche
Verantwortung, sich als Lehrerin impfen zu lassen, sieht sie
nicht. </p>
<p> Andere Impfskeptiker äußern sich im Gespräch ähnlich wie
Claudia Müller. Sie schätzen ihr eigenes Risiko, schwer an
Covid-19 zu erkranken, als gering ein, weil sie sich gesund
ernähren, viel bewegen. Sich nicht impfen zu lassen ist für
sie eine individuelle Entscheidung, die nichts mit mangelnder
Solidarität zu tun hat. Sie verorten sich politisch eher
linksliberal als konservativ. In ihrem Liberalismus schwingt
ein starker Individualismus mit, also die Idee, dass jeder und
jede letztlich für sich selbst verantwortlich ist. Sie sind
teils anthroposophisch geprägt, glauben, dass es sinnvoll und
stärkend sein kann, Kinderkrankheiten durchzumachen. Und dass
Impfungen einerseits sicherlich dazu beigetragen haben,
gefährliche Krankheiten auszurotten. Dass aber andererseits
Krankheiten wie Diphtherie ihre Hochzeit vor 100 Jahren
hatten, als die Hygienesituation noch eine ganz andere war. </p>
<p> Claudia Müller und andere Impfskeptiker bilden sich ihre
Meinung oft nicht auf Grundlage von Nachrichten oder
politischen Talkshows, sondern suchen im Internet gezielt nach
Informationen, die ihre Meinung bestätigen – und nicht nach
solchen, die ihre Meinung widerlegen könnten. Dabei bewegen
sie sich in anderen Ecken des Internets als die Querdenker.
Sie schicken sich per Mail Links zu einer Arte-Dokumentation,
die den schwedischen Weg in der Corona-Krise lobt, oder per
Whatsapp, was die Heilpraktikerin einer Freundin zu
mRNA-Impfstoffen gesagt hat. Eine Frau verweist auf die „Ärzte
für eine individuelle Impfentscheidung“, einen Verein, den sie
als neutral und ausgewogen empfindet, bei dem aber vor allem
Homöopathen und Anthroposophen engagiert sind und dessen
Ansichten das Paul-Ehrlich-Institut im vergangenen November in
einer Stellungnahme zurückgewiesen hat. </p>
<p> Auch Claudia Müller achtet darauf, wer bestimmte Texte
verfasst. Manchmal besucht sie die Seite „Multipolar“, auf der
sich Autoren kritisch zur Pandemie äußern, manche von ihnen,
das ist ihr wichtig, sind Professoren. Habilitiert sind sie
aber nicht in Medizin, sondern etwa in Politikwissenschaft.
Und die Herausgeber von „Multipolar“sind zwar nicht unbedingt
selbst Verschwörungsideologen, werben aber auf der vom
Verfassungsschutz wohl als Verdachtsfall eingestuften
Plattform „KenFM“um Spenden. </p>
<p> Claudia Müller streitet sich in letzter Zeit öfter mit einer
guten Freundin, die ihr vorwirft, sich nicht impfen zu lassen
sei unvernünftig und unsolidarisch. Andere Impfskeptiker
führen heftige Diskussionen mit ihren Kindern oder
Geschwistern. Wie werden sie sich in den nächsten Monaten
verhalten? Das ist schwer zu sagen. Generalisierbare Aussagen
über Impfskeptiker lässt auch die Cosmo-Studie kaum zu. Sarah
Eitze, Ko-Autorin der Studie, meint aber, da inzwischen mehr
als 40 Prozent der Bevölkerung erstgeimpft seien, kenne fast
jeder schon Geimpfte. Das könne dazu führen, dass sich die
Skepsis langsam verliere. </p>
<p> Sollten in den nächsten Jahren keine neuen seltenen
Nebenwirkungen bekannt werden, will Claudia Müller darüber
nachdenken, sich impfen zu lassen. Eine andere Frau sagt, sie
würde sich nur gegen Corona impfen lassen, wenn sie das Leben,
wie sie es kennt und mag, ungeimpft nicht mehr führen könnte.
Eine Dritte, auch sie Lehrerin, hat entschieden, sich trotz
ihrer Impfskepsis gegen das Virus immunisieren zu lassen. Als
die zweite Corona-Welle wütete, begann sie zu ahnen, dass das
Virus womöglich doch mehr Schaden anrichtet als die Impfung. </p>
</div>
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