[D66] [JD: 118] Nekropolitik - MEXIKANISCHE HYBRIS
R.O.
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Sun Jun 20 11:20:18 CEST 2021
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MEXIKANISCHE HYBRIS
Von Claudia Fix
8-10 minutes
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In /Nekropolitik/ analysiert Timo Dorsch die Beziehungen zwischen
Neoliberalismus, Staat und organisiertem Verbrechen
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Auch jenseits der nackten Zahlen der Ermordeten und Verschwundenen –
2019 wurden mehr Morde registriert als jemals zuvor – sprengt die Gewalt
in Mexiko jede Vorstellungskraft. Denn die Opfer werden häufig
erniedrigt, verstümmelt und anschließend öffentlich ausgestellt. Gewalt
als demonstrativer Akt, als „Botschaft”, ist längst zur Normalität
geworden. Aber wie passt dies zur Solidarität innerhalb der
mexikanischen Zivilgesellschaft, als beispielsweise nach dem großen
Erdbeben 2017 Tausende tagelang gemeinsam um jedes einzelne verschüttete
Menschenleben rangen? Wie ist die Untätigkeit des Staates gegenüber fast
35.000 Morden im Jahr zu erklären, eines Staates, der in anderen
gesellschaftlichen Bereichen – von der Regelung des Verkehrs über die
Kontrolle von Lebensmitteln bis zur Organisation internationaler
Ausstellungen – sehr wohl aktiv ist?
Diesen und anderen Fragen stellt sich Timo Dorsch in seiner Ende 2020 im
Mandelbaum-Verlag erschienenen Analyse/Nekropolitik. Neoliberalismus,
Staat und organisiertes Verbrechen in Mexiko./ Ausgangspunkt war die
„scheinbar banale Frage, die die militante Akademikerin Raquel
Gutiérrez-Aguilar” 2019 auf dem Frankfurter Kongress Geographien der
Gewalt stellte: „Was ist das, was sich in Mexiko abspielt?”
Dorsch definiert Nekropolitik als Ausdruck der strukturellen Gewalt
des Kapitalismus
Bereits in der Einleitung räumt er mit der Kategorie des „Krieges gegen
den Drogenhandel” auf, mit der die Situation in Mexiko meist beschrieben
wird: „… allein der Begriff des Krieges (ist) bereits irreführend, setzt
er doch zwei klar voneinander trennbare bewaffnete Akteure voraus, die
einander in einem klar abgrenzbaren Raum und Verhältnis bekriegen.
Vielmehr existiert in Mexiko eine Parallelität chaotischer Abläufe (…).
Während der Staat einen Teil des organisierten Verbrechens aufreibt und
militärisch bekämpft, nimmt der Wettbewerb zwischen bewaffneten
kriminellen Organisationen genauso zu wie die Verschmelzung staatlicher
Strukturen mit jenen der organisierten Kriminalität.”
„In Mexiko existiert eine Parallelität chaotischer Abläufe“
Das Resultat dieses Verschmelzungsprozesses bezeichnet Dorsch als
„Hybris”, als neue gesellschaftliche Struktur jenseits der Gegensätze
Rechtsstaat/Gesetzlosigkeit oder Normalzustand/Ausnahmezustand. Dabei
sei der mexikanische Staat nicht mit der organisierten Kriminalität
deckungsgleich, auch wenn „Gewaltexzesse (…) in Mexiko gleichermaßen von
staatlichen wie kriminellen Akteuren – von dieser Hybris – begangen”
werden. Nekropolitik, also die „Souveränität” darüber zu entscheiden,
„wer leben darf und wer sterben muss”, sei Ausdruck dieser Hybris. Den
Begriff Nekropolitik und seine Definition übernimmt er von dem
postkolonialen Theoretiker Achille Mbembe, der diesen 2003 in seinem
Aufsatz /Necropolitics/ geprägt und 2019 weiterentwickelt hat. Mbembe
geht es dabei nicht nur um den Tötungsakt an sich, sondern auch um die
Omnipräsenz der Drohung, das Recht, Andere zu versklaven und Formen
politischer Gewalt.
Timo Dorsch definiert Nekropolitik aber nicht als Ausdruck einer völlig
neuen Machtkonstellation, sondern der strukturellen Gewalt des
Kapitalismus: „Diese Macht wird uns abstoßend vorkommen im Verhältnis
zur uns bekannten westeuropäischen Realität. Und doch ist sie nur die
konsequenteste Zuspitzung der auch bei uns vorherrschenden
Gesellschaftsverhältnisse.” Und an anderer Stelle heißt es im
einleitenden Kapitel: „Demokratie, Kapitalismus und Gewalt sind zwei
Seiten einer Medaille. Die mexikanische Wirklichkeit legt dieses
Verhältnis offen. Sie demaskiert.”
Als Ausgangsbedingungen für die Entstehung der „Hybris” und der daraus
folgenden Nekropolitik benennt der Autor drei strukturelle Veränderungen
in Mexiko: Die Fragmentierung staatlicher Macht in den 1990er Jahren
(als die Macht der PRI, der Revolutionären Institutionellen Partei, nach
60 Jahren ununterbrochener Herrschaft auf der Ebene der Bundesstaaten
und später auf nationaler Ebene zu bröckeln begann), die
Neoliberalisierung der Gesellschaft seit den 1980er Jahren sowie das
veränderte Verhältnis zwischen Staat und organisierter Kriminalität seit
den 2000er Jahren. Im weiteren Verlauf seiner Analyse betrachtet er
diese Bedingungen auf der nationalen Ebene und anschließend im
Bundesstaat Michoacán.
In Mexiko ist Gewalt als demonstrativer Akt längst zur Normalität
geworden
Doch während Dorsch recht schlüssig die Folgen des faktischen
„Einparteiensystems” auf der politischen Ebene sowie die historisch
gewachsene Allianz zwischen Staat und organisierter Kriminalität
darstellt, bietet seine ökonomische Analyse wenig Erkenntnisgewinn in
Bezug auf die Entstehung der „Hybris”. Trotz – oder vielleicht gerade
wegen – der Zahlenfülle zur Neoliberalisierung, gelingt es ihm nicht,
die ökonomischen Entwicklungen in einer Form zu systematisieren, die
seine These zur „Hybris” untermauern würde.
Es ist daher gut, dass auf die makroökonomische Analyse die „Fallstudie”
des Bundesstaates Michoacán folgt. Nach einer kurzen Einführung in die
politische und ökonomische Geschichte Michoacáns und seiner
strategischen Bedeutung sowie einen Überblick über Teile des
organisierten Verbrechens wird überdeutlich, um wie viele verschiedene
Akteure es sich in diesem Bereich handelt. Akteure, die Bündnisse
schließen – auch mit größeren Einheiten wie dem Sinaloa-Kartell, diese
wieder auflösen, Unterorganisationen bilden und dabei auf verschiedenste
Art und Weise mit politischen Kräften und der legalen wirtschaftlichen
Sphäre verbunden sind.
Timo Dorsch verfolgt dies anhand zweier Wirtschaftsbereiche in
Michoacán: Bergbau und Avocado-Produktion. Hier kann er die
Gleichzeitigkeit von legalem und illegalem Abbau im Bereich Bergbau
belegen, bei der die illegale Mine La Nuez im Windschatten des
internationalen Unternehmens Ternium segelt. Aus dem illegalen Abbau
werden 300 Tonnen Erz und Gestein pro Tag, vermutlich als Eigentum von
Ternium deklariert, im Hafen von Manzanilla gelagert, ohne dass Ternium
protestiert hätte. Auch Zahlungen an die sogenannten Tempelritter (/Los
Caballeros Templarios/), die von 2011 bis 2015 die organisierte
Kriminalität in Michoacán dominierten, wurden von Ternium geleistet, ihr
Repräsentant von den Tempelrittern zeitweise entführt. Der Transport des
Erzes fand laut Augenzeugen unter Beobachtung von Soldaten von Armee und
Marine statt, auch das Dynamit soll von Soldaten geliefert worden sein.
Dem Gewaltregime der Tempelritter setzten Polizei und Militär kaum etwas
entgegen, währendessen eine Bewegung der Selbstverteidigung der
Bevölkerung (/autodefensa/) 2013 kurzfristig erfolgreich war. Ihre
Protagonisten wurden anschließend juristisch verfolgt, während Beweise
gegen die Tempelritter für Ermittlungen nicht genutzt wurden. Die
Avocado-Produktion wurde von den Tempelrittern wcaeitgehend unter
Mithilfe staatlicher Strukturen übernommen „… indem über einen amtlich
beglaubigten Notar Avocadogärten lokaler Produzierender unter
Gewaltandrohung auf Mitglieder der organisierten Kriminalität übertragen
wurden.”
So aufschlussreich das Beispiel von Michoacán auch ist – der Autor
verliert sich hier leider in der „Parallelität chaotischer Abläufe”,
seine Darstellung ist weder chronologisch noch geographisch stringent,
oft journalistisch statt analytisch. Am Ende ist/Nekropolitik/
weitestgehend so, wie Timo Dorsch die Analyse selbst verstanden wissen
wollte: „… als Versuch und als Suche, als mögliche Deutung der Gewalt,
als Beitrag zur Debatte.”
*Timo Dorsch* // /Nekropolitik. Neoliberalismus, Staat und organisiertes
Verbrechen in Mexiko/ // Mandelbaum // 19 Euro // 286 Seiten
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