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<h1 class="reader-title">MEXIKANISCHE HYBRIS</h1>
<div class="credits reader-credits">Von Claudia Fix</div>
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<hr>
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<p>In <em>Nekropolitik</em> analysiert Timo Dorsch die
Beziehungen zwischen Neoliberalismus, Staat und
organisiertem Verbrechen</p>
<div>
<p><a
href="https://lateinamerika-nachrichten.de/wp-content/uploads/2021/04/nekropolitik-e1620131812845.jpg"><img
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alt="" width="731" height="1024"></a></p>
<p>Auch jenseits der nackten Zahlen der Ermordeten und
Verschwundenen – 2019 wurden mehr Morde registriert als
jemals zuvor – sprengt die Gewalt in Mexiko jede
Vorstellungskraft. Denn die Opfer werden häufig
erniedrigt, verstümmelt und anschließend öffentlich
ausgestellt. Gewalt als demonstrativer Akt, als
„Botschaft”, ist längst zur Normalität geworden. Aber
wie passt dies zur Solidarität innerhalb der
mexikanischen Zivilgesellschaft, als beispielsweise nach
dem großen Erdbeben 2017 Tausende tagelang gemeinsam um
jedes einzelne verschüttete Menschenleben rangen? Wie
ist die Untätigkeit des Staates gegenüber fast 35.000
Morden im Jahr zu erklären, eines Staates, der in
anderen gesellschaftlichen Bereichen – von der Regelung
des Verkehrs über die Kontrolle von Lebensmitteln bis
zur Organisation internationaler Ausstellungen – sehr
wohl aktiv ist?</p>
<p>Diesen und anderen Fragen stellt sich Timo Dorsch in
seiner Ende 2020 im Mandelbaum-Verlag erschienenen
Analyse<em> Nekropolitik. Neoliberalismus, Staat und
organisiertes Verbrechen in Mexiko.</em> Ausgangspunkt
war die „scheinbar banale Frage, die die militante
Akademikerin Raquel Gutiérrez-Aguilar” 2019 auf dem
Frankfurter Kongress Geographien der Gewalt stellte:
„Was ist das, was sich in Mexiko abspielt?” </p>
<div>
<blockquote>
<p>Dorsch definiert Nekropolitik als Ausdruck der
strukturellen Gewalt des Kapitalismus</p>
</blockquote>
</div>
<p> Bereits in der Einleitung räumt er mit der Kategorie
des „Krieges gegen den Drogenhandel” auf, mit der die
Situation in Mexiko meist beschrieben wird: „… allein
der Begriff des Krieges (ist) bereits irreführend, setzt
er doch zwei klar voneinander trennbare bewaffnete
Akteure voraus, die einander in einem klar abgrenzbaren
Raum und Verhältnis bekriegen. Vielmehr existiert in
Mexiko eine Parallelität chaotischer Abläufe (…).
Während der Staat einen Teil des organisierten
Verbrechens aufreibt und militärisch bekämpft, nimmt der
Wettbewerb zwischen bewaffneten kriminellen
Organisationen genauso zu wie die Verschmelzung
staatlicher Strukturen mit jenen der organisierten
Kriminalität.”</p>
<div>
<blockquote>
<p>„In Mexiko existiert eine Parallelität chaotischer
Abläufe“</p>
</blockquote>
</div>
<p>Das Resultat dieses Verschmelzungsprozesses bezeichnet
Dorsch als „Hybris”, als neue gesellschaftliche Struktur
jenseits der Gegensätze Rechtsstaat/Gesetzlosigkeit oder
Normalzustand/Ausnahmezustand. Dabei sei der
mexikanische Staat nicht mit der organisierten
Kriminalität deckungsgleich, auch wenn „Gewaltexzesse
(…) in Mexiko gleichermaßen von staatlichen wie
kriminellen Akteuren – von dieser Hybris – begangen”
werden. Nekropolitik, also die „Souveränität” darüber zu
entscheiden, „wer leben darf und wer sterben muss”, sei
Ausdruck dieser Hybris. Den Begriff Nekropolitik und
seine Definition übernimmt er von dem postkolonialen
Theoretiker Achille Mbembe, der diesen 2003 in seinem
Aufsatz <em>Necropolitics</em> geprägt und 2019
weiterentwickelt hat. Mbembe geht es dabei nicht nur um
den Tötungsakt an sich, sondern auch um die Omnipräsenz
der Drohung, das Recht, Andere zu versklaven und Formen
politischer Gewalt.</p>
<p>Timo Dorsch definiert Nekropolitik aber nicht als
Ausdruck einer völlig neuen Machtkonstellation, sondern
der strukturellen Gewalt des Kapitalismus: „Diese Macht
wird uns abstoßend vorkommen im Verhältnis zur uns
bekannten westeuropäischen Realität. Und doch ist sie
nur die konsequenteste Zuspitzung der auch bei uns
vorherrschenden Gesellschaftsverhältnisse.” Und an
anderer Stelle heißt es im einleitenden Kapitel:
„Demokratie, Kapitalismus und Gewalt sind zwei Seiten
einer Medaille. Die mexikanische Wirklichkeit legt
dieses Verhältnis offen. Sie demaskiert.”</p>
<p>Als Ausgangsbedingungen für die Entstehung der „Hybris”
und der daraus folgenden Nekropolitik benennt der Autor
drei strukturelle Veränderungen in Mexiko: Die
Fragmentierung staatlicher Macht in den 1990er Jahren
(als die Macht der PRI, der Revolutionären
Institutionellen Partei, nach 60 Jahren ununterbrochener
Herrschaft auf der Ebene der Bundesstaaten und später
auf nationaler Ebene zu bröckeln begann), die
Neoliberalisierung der Gesellschaft seit den 1980er
Jahren sowie das veränderte Verhältnis zwischen Staat
und organisierter Kriminalität seit den 2000er Jahren.
Im weiteren Verlauf seiner Analyse betrachtet er diese
Bedingungen auf der nationalen Ebene und anschließend im
Bundesstaat Michoacán. </p>
<div>
<blockquote>
<p>In Mexiko ist Gewalt als demonstrativer Akt längst
zur Normalität geworden</p>
</blockquote>
</div>
<p>
Doch während Dorsch recht schlüssig die Folgen des
faktischen „Einparteiensystems” auf der politischen
Ebene sowie die historisch gewachsene Allianz zwischen
Staat und organisierter Kriminalität darstellt, bietet
seine ökonomische Analyse wenig Erkenntnisgewinn in
Bezug auf die Entstehung der „Hybris”. Trotz – oder
vielleicht gerade wegen – der Zahlenfülle zur
Neoliberalisierung, gelingt es ihm nicht, die
ökonomischen Entwicklungen in einer Form zu
systematisieren, die seine These zur „Hybris”
untermauern würde.</p>
<p>Es ist daher gut, dass auf die makroökonomische Analyse
die „Fallstudie” des Bundesstaates Michoacán folgt. Nach
einer kurzen Einführung in die politische und
ökonomische Geschichte Michoacáns und seiner
strategischen Bedeutung sowie einen Überblick über Teile
des organisierten Verbrechens wird überdeutlich, um wie
viele verschiedene Akteure es sich in diesem Bereich
handelt. Akteure, die Bündnisse schließen – auch mit
größeren Einheiten wie dem Sinaloa-Kartell, diese wieder
auflösen, Unterorganisationen bilden und dabei auf
verschiedenste Art und Weise mit politischen Kräften und
der legalen wirtschaftlichen Sphäre verbunden sind.</p>
<p>Timo Dorsch verfolgt dies anhand zweier
Wirtschaftsbereiche in Michoacán: Bergbau und
Avocado-Produktion. Hier kann er die Gleichzeitigkeit
von legalem und illegalem Abbau im Bereich Bergbau
belegen, bei der die illegale Mine La Nuez im
Windschatten des internationalen Unternehmens Ternium
segelt. Aus dem illegalen Abbau werden 300 Tonnen Erz
und Gestein pro Tag, vermutlich als Eigentum von Ternium
deklariert, im Hafen von Manzanilla gelagert, ohne dass
Ternium protestiert hätte. Auch Zahlungen an die
sogenannten Tempelritter (<em>Los Caballeros Templarios</em>),
die von 2011 bis 2015 die organisierte Kriminalität in
Michoacán dominierten, wurden von Ternium geleistet, ihr
Repräsentant von den Tempelrittern zeitweise entführt.
Der Transport des Erzes fand laut Augenzeugen unter
Beobachtung von Soldaten von Armee und Marine statt,
auch das Dynamit soll von Soldaten geliefert worden
sein. Dem Gewaltregime der Tempelritter setzten Polizei
und Militär kaum etwas entgegen, währendessen eine
Bewegung der Selbstverteidigung der Bevölkerung (<em>autodefensa</em>)
2013 kurzfristig erfolgreich war. Ihre Protagonisten
wurden anschließend juristisch verfolgt, während Beweise
gegen die Tempelritter für Ermittlungen nicht genutzt
wurden. Die Avocado-Produktion wurde von den
Tempelrittern wcaeitgehend unter Mithilfe staatlicher
Strukturen übernommen „… indem über einen amtlich
beglaubigten Notar Avocadogärten lokaler Produzierender
unter Gewaltandrohung auf Mitglieder der organisierten
Kriminalität übertragen wurden.”</p>
<p>So aufschlussreich das Beispiel von Michoacán auch ist
– der Autor verliert sich hier leider in der
„Parallelität chaotischer Abläufe”, seine Darstellung
ist weder chronologisch noch geographisch stringent, oft
journalistisch statt analytisch. Am Ende ist<em>
Nekropolitik</em> weitestgehend so, wie Timo Dorsch
die Analyse selbst verstanden wissen wollte: „… als
Versuch und als Suche, als mögliche Deutung der Gewalt,
als Beitrag zur Debatte.”</p>
</div>
<p><strong>Timo Dorsch</strong> // <em>Nekropolitik.
Neoliberalismus, Staat und organisiertes Verbrechen in
Mexiko</em> // Mandelbaum // 19 Euro // 286 Seiten</p>
</div>
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