[D66] Wie in Frankreich die Akzeptanz der Corona-Maßnahmen verspielt wird

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Fri Sep 25 07:13:49 CEST 2020


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  * 25 Sep 2020
  * Frankfurter Allgemeine Zeitung
  * Von Michaela Wiegel, Paris


  Tödlicher Zentralismus


    Wie in Frankreich die Akzeptanz der Corona-Maßnahmen verspielt wird

Paris entscheidet über regionale Maßnahmen – ohne Konsultation und ohne 
klare Kriterien.

Auf Frankreich rollt eine zweite Infektionswelle zu, und die neue 
Regierung unter Premierminister Jean Castex wiederholt die Fehler ihrer 
Vorgänger. Gesundheitsminister Olivier Véran hat autoritär von Paris aus 
entschieden, Beschränkungen wie Gaststättenschließungen und Sperrstunden 
in Marseille, Paris, Bordeaux, Lyon, Toulouse, Lille und anderen 
Großstädten zu verhängen. Frankreich wird künftig nicht mehr nur in rote 
und grüne Zonen eingeteilt, es kommen „scharlachrote“Zonen für Gebiete 
mit besonders intensivem Infektionsgeschehen hinzu. Die Kriterien für 
die Zoneneinteilung, die schon zuvor willkürlichen Änderungen 
unterworfen waren, wurden abermals revidiert. Die Abstimmung mit den 
lokalen und regionalen Entscheidungsträgern, die als Lehre aus dem 
Versagen des zentralstaatlichen Bürokratismus im Frühsommer angekündigt 
worden war, fand nicht stand.

Erstmals seit Ausbruch der Pandemie im März muss die Regierung jetzt mit 
einer massiven Front des Widerstands kämpfen. Die grüne Bürgermeisterin 
von Marseille, Michèle Rubirola, sprach von einer „politischen 
Entscheidung, die niemand versteht“. Sie sei wütend und zweifele daran, 
dass die Bevölkerung der Regierung folgen werde. Restaurant- und 
Café-Inhaber in Marseille haben bereits mit dem Segen ihres Verbandes 
Protestaktionen angekündigt. Die rechtsbürgerliche Bürgermeisterin von 
Aix-en-Provence war so erbost, dass sie in der Regionalpresse den 
Gesundheitsminister aufforderte, lieber „die Fresse zu halten“. Eine 
Regierung sei nicht dazu da, der Bevölkerung Angst zu machen und eine 
wirtschaftliche Katastrophe heraufzubeschwören.

Die Stadtverwaltung in Marseille bat um einen Aufschub von zehn Tagen 
vor den Gaststättenschließungen. Auch in Paris regt sich Widerstand 
gegen die angekündigte Sperrstunde für Gastronomiebetriebe. 
Bürgermeisterin Anne Hidalgo sagte, sie sei nicht mit den 
Einschränkungen einverstanden, das habe sie dem Polizeipräfekten auch 
signalisiert. „Wir brauchen eine andere Methode“, betonte die 
sozialistische Bürgermeisterin. Der rechtsbürgerliche 
Regionalratsvorsitzende der Mittelmeerregion Provence-Alpes-Côte d’Azur 
(Paca), Renaud Muselier, beklagte, die unilateral beschlossene 
Restaurantschließung für zwei Wochen komme einem zweiten Lockdown nahe. 
Er bewertete das Vorgehen der Regierung als „kollektive Bestrafung“für 
die Bewohner in Marseille. Von Abstimmung könne nicht die Rede sein, der 
Gesundheitsminister habe ihn dreißig Minuten vor seinem Presseauftritt 
angerufen und über die geplanten Beschränkungen in Kenntnis gesetzt.

Für die Akzeptanz der Maßnahmen zum Infektionsschutz dürfte sich der 
Rückgriff auf das autoritäre, unilaterale Entscheidungsverfahren als 
verheerend erweisen. Frankreich schafft es einfach nicht, sich auf die 
von Premierminister Castex versprochene Zusammenarbeit mit lokalen 
Entscheidungsträgern einzulassen und einen von einer Mehrheit der Bürger 
getragenen Konsens herauszubilden. Schon zu Beginn legte die CoronaKrise 
die französischen Schwächen wie unzureichende Personalpolitik und 
mangelnde Ausrüstung in den Krankenhäusern offen. Vielen Franzosen wurde 
bewusst, wie schlecht die bürokratischen Strukturen im Gesundheitswesen 
im Ernstfall funktionierten.

Aber fortan steht ähnlich wie während der „Gelbwesten“-Krise der 
Regierungsstil im Mittelpunkt der Kritik. Das gestörte 
Vertrauensverhältnis zwischen Regierung und Bürgern, der Rückgriff auf 
einsame Entscheidungen von oben herab, die Unfähigkeit, im Austausch 
Kompromisse zu schmieden, und auch der Mangel an Transparenz wurden bei 
Vérans Auftritt von neuem deutlich. Noch immer fehlt es an einer 
transparenten Informationsweitergabe, die es dem einzelnen Bürger 
erlaubt, das Infektionsgeschehen an seinem Wohnort zu beurteilen. Zur 
Empörung in Marseille trägt die Tatsache bei, dass die zugänglichen 
Infektionszahlen in der Mittelmeerstadt nach unten weisen. Véran 
unterließ es, die Gründe offenzulegen, warum Marseille als 
scharlachrotes Hochrisikogebiet eingestuft wurde.

Dabei fehlte es nach mehr als 31 000 Corona-Toten nicht an 
Eingeständnissen, dass sich der Zentralstaat als Hindernis für ein 
bürgernahes Krisenmanagement erwiesen habe. „Die zentralisierte 
Staatsorganisation war der Situation nicht angepasst“, sagte etwa der 
frühere Minister François Bayrou, der künftig das neu geschaffene 
Plankommissariat leitet. „Wenn man etwas aus der Krise lernen kann, dann 
die Tatsache, dass die lokalen Initiativen viel wirksamer sind, um auf 
Unvorhergesehenes zu reagieren“, sagte er.

Der Zentralismus hat Frankreich jedoch weiter fest im Griff. In seinem 
Buch über „Das Ancien Régime und die Revolution“erläuterte bereits 
Alexis de Tocqueville Mitte des 19. Jahrhunderts, dass der Zentralismus 
nicht ein Erbe der Französischen Revolution sei. Vielmehr habe die 
administrative Zentralisierung bereits während des Absolutismus mit dem 
Königlichen Rat und seinen Hundertschaften von Beamten begonnen. Die 
institutionellen Strukturen überstanden die Revolution unbeschadet – und 
offensichtlich auch die „Révolution“, die Emmanuel Macron in seinem 
Wahlkampfbuch angekündigt hatte.

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