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<ul class="art-meta">
<li>Article rank <span class="art-rank-0"></span></li>
<li>25 Sep 2020</li>
<li>Frankfurter Allgemeine Zeitung</li>
<li>Von Michaela Wiegel, Paris</li>
</ul>
<h1>Tödlicher Zentralismus </h1>
<div class="clear">
<div class="art-layout-a-2x" id="testArtCol_a">
<h2>Wie in Frankreich die Akzeptanz der Corona-Maßnahmen
verspielt wird</h2>
<p class="art-annotation">Paris entscheidet über regionale
Maßnahmen – ohne Konsultation und ohne klare Kriterien.</p>
<p>
Auf Frankreich rollt eine zweite Infektionswelle zu, und die
neue Regierung unter Premierminister Jean Castex wiederholt
die Fehler ihrer Vorgänger. Gesundheitsminister Olivier Véran
hat autoritär von Paris aus entschieden, Beschränkungen wie
Gaststättenschließungen und Sperrstunden in Marseille, Paris,
Bordeaux, Lyon, Toulouse, Lille und anderen Großstädten zu
verhängen. Frankreich wird künftig nicht mehr nur in rote und
grüne Zonen eingeteilt, es kommen „scharlachrote“Zonen für
Gebiete mit besonders intensivem Infektionsgeschehen hinzu.
Die Kriterien für die Zoneneinteilung, die schon zuvor
willkürlichen Änderungen unterworfen waren, wurden abermals
revidiert. Die Abstimmung mit den lokalen und regionalen
Entscheidungsträgern, die als Lehre aus dem Versagen des
zentralstaatlichen Bürokratismus im Frühsommer angekündigt
worden war, fand nicht stand. </p>
<p>
Erstmals seit Ausbruch der Pandemie im März muss die Regierung
jetzt mit einer massiven Front des Widerstands kämpfen. Die
grüne Bürgermeisterin von Marseille, Michèle Rubirola, sprach
von einer „politischen Entscheidung, die niemand versteht“.
Sie sei wütend und zweifele daran, dass die Bevölkerung der
Regierung folgen werde. Restaurant- und Café-Inhaber in
Marseille haben bereits mit dem Segen ihres Verbandes
Protestaktionen angekündigt. Die rechtsbürgerliche
Bürgermeisterin von Aix-en-Provence war so erbost, dass sie in
der Regionalpresse den Gesundheitsminister aufforderte, lieber
„die Fresse zu halten“. Eine Regierung sei nicht dazu da, der
Bevölkerung Angst zu machen und eine wirtschaftliche
Katastrophe heraufzubeschwören. </p>
<p>
Die Stadtverwaltung in Marseille bat um einen Aufschub von
zehn Tagen vor den Gaststättenschließungen. Auch in Paris regt
sich Widerstand gegen die angekündigte Sperrstunde für
Gastronomiebetriebe. Bürgermeisterin Anne Hidalgo sagte, sie
sei nicht mit den Einschränkungen einverstanden, das habe sie
dem Polizeipräfekten auch signalisiert. „Wir brauchen eine
andere Methode“, betonte die sozialistische Bürgermeisterin.
Der rechtsbürgerliche Regionalratsvorsitzende der
Mittelmeerregion Provence-Alpes-Côte d’Azur (Paca), Renaud
Muselier, beklagte, die unilateral beschlossene
Restaurantschließung für zwei Wochen komme einem zweiten
Lockdown nahe. Er bewertete das Vorgehen der Regierung als
„kollektive Bestrafung“für die Bewohner in Marseille. Von
Abstimmung könne nicht die Rede sein, der Gesundheitsminister
habe ihn dreißig Minuten vor seinem Presseauftritt angerufen
und über die geplanten Beschränkungen in Kenntnis gesetzt. </p>
</div>
<div class="art-layout-b-2x" id="testArtCol_b">
<p> Für die Akzeptanz der Maßnahmen zum Infektionsschutz dürfte
sich der Rückgriff auf das autoritäre, unilaterale
Entscheidungsverfahren als verheerend erweisen. Frankreich
schafft es einfach nicht, sich auf die von Premierminister
Castex versprochene Zusammenarbeit mit lokalen
Entscheidungsträgern einzulassen und einen von einer Mehrheit
der Bürger getragenen Konsens herauszubilden. Schon zu Beginn
legte die CoronaKrise die französischen Schwächen wie
unzureichende Personalpolitik und mangelnde Ausrüstung in den
Krankenhäusern offen. Vielen Franzosen wurde bewusst, wie
schlecht die bürokratischen Strukturen im Gesundheitswesen im
Ernstfall funktionierten. </p>
<p> Aber fortan steht ähnlich wie während der „Gelbwesten“-Krise
der Regierungsstil im Mittelpunkt der Kritik. Das gestörte
Vertrauensverhältnis zwischen Regierung und Bürgern, der
Rückgriff auf einsame Entscheidungen von oben herab, die
Unfähigkeit, im Austausch Kompromisse zu schmieden, und auch
der Mangel an Transparenz wurden bei Vérans Auftritt von neuem
deutlich. Noch immer fehlt es an einer transparenten
Informationsweitergabe, die es dem einzelnen Bürger erlaubt,
das Infektionsgeschehen an seinem Wohnort zu beurteilen. Zur
Empörung in Marseille trägt die Tatsache bei, dass die
zugänglichen Infektionszahlen in der Mittelmeerstadt nach
unten weisen. Véran unterließ es, die Gründe offenzulegen,
warum Marseille als scharlachrotes Hochrisikogebiet eingestuft
wurde. </p>
<p> Dabei fehlte es nach mehr als 31 000 Corona-Toten nicht an
Eingeständnissen, dass sich der Zentralstaat als Hindernis für
ein bürgernahes Krisenmanagement erwiesen habe. „Die
zentralisierte Staatsorganisation war der Situation nicht
angepasst“, sagte etwa der frühere Minister François Bayrou,
der künftig das neu geschaffene Plankommissariat leitet. „Wenn
man etwas aus der Krise lernen kann, dann die Tatsache, dass
die lokalen Initiativen viel wirksamer sind, um auf
Unvorhergesehenes zu reagieren“, sagte er. </p>
<p> Der Zentralismus hat Frankreich jedoch weiter fest im Griff.
In seinem Buch über „Das Ancien Régime und die
Revolution“erläuterte bereits Alexis de Tocqueville Mitte des
19. Jahrhunderts, dass der Zentralismus nicht ein Erbe der
Französischen Revolution sei. Vielmehr habe die administrative
Zentralisierung bereits während des Absolutismus mit dem
Königlichen Rat und seinen Hundertschaften von Beamten
begonnen. Die institutionellen Strukturen überstanden die
Revolution unbeschadet – und offensichtlich auch die
„Révolution“, die Emmanuel Macron in seinem Wahlkampfbuch
angekündigt hatte. </p>
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