[D66] Angst vor dem Kollaps
R.O.
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Fri Oct 9 05:55:24 CEST 2020
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* 9 Oct 2020
* Frankfurter Allgemeine Zeitung
* Von Michaela Wiegel, Paris
Angst vor dem Kollaps
Frankreich wappnet sich für eine zweite Infektionswelle. Streit gibt
es um die Zahl der tatsächlich verfügbaren Intensivbetten.
Die französische Hauptstadt muss sich auf eine „sehr heftige
Flutwelle“vorbereiten, hat der Leiter der regionalen Gesundheitsbehörde
ARS, Aurélien Rousseau, am Donnerstag gewarnt. Die Zahl der
Neuinfektionen hat mit annähernd 19 000 im ganzen Land innerhalb der
vergangenen 24 Stunden einen neuen Höchststand erreicht. Besonders
schwer ist Paris betroffen. In der gesamten Hauptstadtregion ist mit
sofortiger Wirkung der Katastrophenplan „plan blanc“in den
Krankenhäusern aktiviert. Alle nicht unbedingt notwendigen chirurgischen
Eingriffe werden damit verschoben, um die Betten auf der Intensivstation
für Covid-19-Patienten freihalten zu können. Krankenhausleitungen können
Urlaubssperren verhängen und Mitarbeiter in den Dienst zurückholen, die
nach dem Arbeitseinsatz im Frühjahr Überstunden abgebaut haben.
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/Foto Getty /Dicht gedrängt: Fahrgäste in der Pariser Metro am Donnerstag
Frankreich setzt seine intensive Testkampagne fort. Pro Woche werden 1,1
Millionen Tests vorgenommen, das sind mehr als derzeit in Deutschland.
Aber die langen Wartezeiten von mehr als einer Woche zur Auswertung
führen dazu, dass Kontaktketten oftmals nicht unterbrochen werden
können. Der Generalsekretär des Ärzteverbands MG France, Jean-Christophe
Nogrette, forderte, die neuen Schnelltests für Speichelproben
auszuweiten, um die Labore zu entlasten und Erkrankte schneller
isolieren zu können. „Die Speicheltests sind ein Instrument, das auch
wir Hausärzte einsetzen könnten“, sagte Nogrette im Radiosender France
Info. Die französische Gesundheitsaufsicht Haute Autorité de Santé hat
die Einführung der Speichel-Schnelltests genehmigt, will sie aber
bislang nur bei Franzosen mit starken Symptomen einsetzen. Zudem sollen
nur Labore Zugang zu den Tests haben, die von der Krankenversicherung
bezahlt werden.
Der Nachweis des Sars-CoV-2-Virus wird in Frankreich fast ausschließlich
anhand von Nasen-Rachen-Abstrichen vorgenommen. Der Prozentsatz der
positiven Testergebnisse steigt kontinuierlich an. Inzwischen liegt er
bei 9,1 Prozent. Präsident Emmanuel Macron hat schärfere Beschränkungen
in den Gebieten gefordert, „in denen das Virus sich schnell verbreitet“.
Es wurde erwartet, dass Gesundheitsminister Olivier Véran am
Donnerstagabend striktere Regeln für Lille, Lyon, Grenoble, SaintÉtienne
und Toulouse verkündet. In Paris und den umliegenden Kommunen sind
bereits alle Cafés und Bars geschlossen. Für Restaurants gelten strikte
Hygieneauflagen.
Die Regierung reagiert nervös, weil das Krankenhaussystem einer zweiten
Infektionswelle nicht standzuhalten droht. Eine der größten Schwächen
ist die chronische Personalnot. „Wir werden dieses Mal wesentlich
schneller ausgelastet sein als im März“, warnte der Leiter der
Notaufnahme des Pariser Großkrankenhauses Georges Pompidou, Philippe
Juvin. Im Frühjahr habe es viel personelle Verstärkung aus anderen,
weniger schwer getroffenen Regionen in Frankreich gegeben. Jetzt
kämpften alle Krankenhäuser mit den Folgen der Pandemie und das eigene
Personal sei von den Anstrengungen im Frühjahr noch erschöpft, sagte Juvin.
Frankreich hat entgegen anderslautenden Versprechen Gesundheitsministers
Olivier Véran die Zahl der verfügbaren Intensivbetten während der
relativ ruhigen Sommermonate nicht erhöht. Im Juli hatte Véran
angekündigt, die Zahl der Intensivbetten werde von 5000 auf 12 000 im
Herbst aufgestockt. „Es handelt sich um eine bewusste Lüge, wenn man den
Franzosen weismachen will, dass es 12 000 Intensivbettenplätze gebe“,
entrüstete sich Djillali Annane, Leiter der Intensivstation im
Krankenhaus Raymond-Poincaré in dem Pariser Vorort Garches. „Die
Wahrheit ist, dass wir über 5058 Intensivbettenplätze in ganz Frankreich
verfügen, zehn Prozent davon in Privatkliniken“, sagte er der Zeitung
„Le Figaro“.
Notaufnahmeleiter Juvin sagte im Fernsehsender BFM-TV, dass zwischen 500
und 600 der Intensivbettenplätze aus Personalmangel nicht genutzt werden
könnten. Der Berufsverband der Intensivmediziner hat den Rechnungshof in
einem Schreiben vom 30. September auf den Personalnotstand hingewiesen.
26 Prozent der Planstellen in den staatlichen Krankenhäusern sind
unbesetzt. Den chronischen Personalmangel erklärt die Chefin der
Infektiologie-Abteilung am Pariser Krankenhaus Bichat, Anne Gervais, mit
den unattraktiven Arbeitsbedingungen. „Im Durchschnitt hören Mitarbeiter
des Pflegepersonals nach fünf bis sieben Jahren auf, weil sie die
Dauerüberlastung nicht mehr ertragen und im privaten Bereich mehr
verdienen“, sagte Gervais der Zeitung „La Croix“. Der französische
Krankenhausverband hat derzeit 5000 offene Stellen im ärztlichen und im
Pflegebereich ausgeschrieben. Im Juli hat das Gesundheitsministerium 8,2
Milliarden Euro für allgemeine Gehaltserhöhungen in den Pflegeberufen
freigegeben.
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