[D66] Suchen, verlieren, Wiedererlangen: Celan liest Celan

R.O. jugg at ziggo.nl
Thu Nov 26 18:56:35 CET 2020


  * 23 Nov 2020
  * Neues Deutschland
  * JANA MARIA WEISS


  »Das Gedicht: die Stimme«


    Suchen, verlieren, Wiedererlangen: Celan liest Celan

Im Mai 1952 liest Paul Celan beim Treffen der Gruppe 47 in Niendorf an 
der Ostsee. Sein Vortrag provoziert die Zuhörer: Jemand meint, Celan 
lese »wie Goebbels«, es fällt der antisemitische Kommentar, das sei ein 
»Singsang wie in einer Synagoge«. In den Ohren der westdeutschen 
Nachkriegsdichter, die auf nüchternes und monotones Sprechen setzen, 
klingt Celans Stimme »zu pathetisch«. Nach der Lesung bittet man einen 
anderen Autor, Celans Gedichte, darunter die berühmte »Todesfuge«, noch 
einmal »neutral« vorzutragen. Celan begreift das als Affront: In 
Niendorf sei er »beleidigt worden«.

Für den Überlebenden der Shoah, der nach 1945 in deutscher Sprache 
weiterschreibt, sind Gedichte nicht einfach vom Dichter abzulösen. 
»Wirklichkeitswund« nennt er seine Texte, entstanden unter dem 
»Neigungswinkel des eigenen Daseins«. Celan sieht Gedichte aufs Engste 
verbunden mit dem Menschen, der sie schreibt und durch sie zu anderen 
spricht. Dazu notiert er: »Das Gedicht: die Stimme«.

Auch bei der Gruppe 47 ist diese Stimme auf der Suche nach Begegnung: 
»Ich habe laut gelesen, ich hatte den Eindruck, über diese Köpfe hinaus 
(…) einen Raum zu erreichen, in dem die ›Stimmen der Stille‹ noch 
vernommen wurden.« Die Köpfe im Publikum enttäuschen ihn jedoch. An 
seine spätere Frau Gisèle Lestrange schreibt Celan, seine Stimme, »die 
nicht wie die der anderen durch die Wörter hindurchglitt, sondern oft in 
einer Meditation bei ihnen verweilte«, »diese Stimme musste angefochten 
werden«. Wie diese Stimme klang, ist nun in einer Originalton-Edition zu 
hören: Unter dem Titel »Todesfuge« präsentiert der Hörverlag 90 
Rezitationen des Dichters aus den Jahren 1952 bis 1968.

Eine Reihe bislang unveröffentlichter Aufnahmen, die vier Tage nach der 
Niendorfer Lesung im Funkhaus des NWDR entstanden sind, machen die 
Zusammenstellung besonders interessant: In langen Sprechpausen und 
Silbendehnungen wird Celans Verweilen bei den Wörtern eindrücklich 
hörbar. Auffällig ist, dass sich der Vortragsstil in den aus anderthalb 
Jahrzehnten versammelten Lesungen immer wieder ändert. Setzt Celan 
einerseits auf große Spannungsbögen, wirken andere Rezitationen 
abgehackt und karg. Statt träumerisch zu verweilen, scheint die Stimme 
hier im Entlanghangeln von Wort zu Wort Halt zu suchen. Diese 
unterschiedlichen Vortragsweisen teils ein und desselben Textes zeigen: 
Im Vorlesen lässt Celan die Gedichte noch einmal entstehen. Stimme muss 
dabei immer wieder neu gewonnen werden. Dieses Suchen, Verlieren und 
Wiedererlangen von Stimme prägt Celans Dichtung von Grund auf. 
Gezeichnet von der Problematik »Wie weiterdichten nach der Shoah?«, 
bewegen sich die Texte oft am Rande des Verstummens. Sein Gedicht 
»Stimmen« endet mit einem Stimmverlust. Dort hören wir: »Keine Stimme«, 
nur »ein Spätgeräusch stundenfremd«. Doch das »nicht mehr zu Nennende« 
verschwindet nie ganz. Es bleibt »heiß, hörbar im Mund«, die Stimme 
kehrt wieder. Zwischen »glasharten Schleifgeräuschen« im vorletzten 
Gedicht der Edition schließlich »spricht eine Kiefer sich frei«.

Die eigenen Worte zur Sprache zu bringen bedeutet für Celan, sie 
hinauszuschicken in einen Raum, wo sie für andere hörbar werden. 1960, 
in seiner Büchnerpreis-Rede erklärt er, was seine Gedichte suchten, sie 
seien »Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird, es sind Begegnungen, 
Wege einer Stimme zu einem wahrnehmenden Du«. Als Hörer von Celans 
Lesungen kann man erleben, wie seine Stimme sich solche Wege bahnt. Ihr 
Gehör zu schenken, lohnt sich.

Paul Celan: Todesfuge. Gedichte und Prosa 19521968. Hörverlag, 2 CDs, 
119 min, 18 €.

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