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<li>23 Nov 2020</li>
<li>Neues Deutschland</li>
<li>JANA MARIA WEISS</li>
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<h1>»Das Gedicht: die Stimme« </h1>
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<h2>Suchen, verlieren, Wiedererlangen: Celan liest Celan</h2>
<p> Im Mai 1952 liest Paul Celan beim Treffen der Gruppe 47 in
Niendorf an der Ostsee. Sein Vortrag provoziert die Zuhörer:
Jemand meint, Celan lese »wie Goebbels«, es fällt der
antisemitische Kommentar, das sei ein »Singsang wie in einer
Synagoge«. In den Ohren der westdeutschen Nachkriegsdichter,
die auf nüchternes und monotones Sprechen setzen, klingt
Celans Stimme »zu pathetisch«. Nach der Lesung bittet man
einen anderen Autor, Celans Gedichte, darunter die berühmte
»Todesfuge«, noch einmal »neutral« vorzutragen. Celan begreift
das als Affront: In Niendorf sei er »beleidigt worden«. </p>
<p> Für den Überlebenden der Shoah, der nach 1945 in deutscher
Sprache weiterschreibt, sind Gedichte nicht einfach vom
Dichter abzulösen. »Wirklichkeitswund« nennt er seine Texte,
entstanden unter dem »Neigungswinkel des eigenen Daseins«.
Celan sieht Gedichte aufs Engste verbunden mit dem Menschen,
der sie schreibt und durch sie zu anderen spricht. Dazu
notiert er: »Das Gedicht: die Stimme«. </p>
<p> Auch bei der Gruppe 47 ist diese Stimme auf der Suche nach
Begegnung: »Ich habe laut gelesen, ich hatte den Eindruck,
über diese Köpfe hinaus (…) einen Raum zu erreichen, in dem
die ›Stimmen der Stille‹ noch vernommen wurden.« Die Köpfe im
Publikum enttäuschen ihn jedoch. An seine spätere Frau Gisèle
Lestrange schreibt Celan, seine Stimme, »die nicht wie die der
anderen durch die Wörter hindurchglitt, sondern oft in einer
Meditation bei ihnen verweilte«, »diese Stimme musste
angefochten werden«. Wie diese Stimme klang, ist nun in einer
Originalton-Edition zu hören: Unter dem Titel »Todesfuge«
präsentiert der Hörverlag 90 Rezitationen des Dichters aus den
Jahren 1952 bis 1968. </p>
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<p> Eine Reihe bislang unveröffentlichter Aufnahmen, die vier
Tage nach der Niendorfer Lesung im Funkhaus des NWDR
entstanden sind, machen die Zusammenstellung besonders
interessant: In langen Sprechpausen und Silbendehnungen wird
Celans Verweilen bei den Wörtern eindrücklich hörbar.
Auffällig ist, dass sich der Vortragsstil in den aus
anderthalb Jahrzehnten versammelten Lesungen immer wieder
ändert. Setzt Celan einerseits auf große Spannungsbögen,
wirken andere Rezitationen abgehackt und karg. Statt
träumerisch zu verweilen, scheint die Stimme hier im
Entlanghangeln von Wort zu Wort Halt zu suchen. Diese
unterschiedlichen Vortragsweisen teils ein und desselben
Textes zeigen: Im Vorlesen lässt Celan die Gedichte noch
einmal entstehen. Stimme muss dabei immer wieder neu gewonnen
werden. Dieses Suchen, Verlieren und Wiedererlangen von Stimme
prägt Celans Dichtung von Grund auf. Gezeichnet von der
Problematik »Wie weiterdichten nach der Shoah?«, bewegen sich
die Texte oft am Rande des Verstummens. Sein Gedicht »Stimmen«
endet mit einem Stimmverlust. Dort hören wir: »Keine Stimme«,
nur »ein Spätgeräusch stundenfremd«. Doch das »nicht mehr zu
Nennende« verschwindet nie ganz. Es bleibt »heiß, hörbar im
Mund«, die Stimme kehrt wieder. Zwischen »glasharten
Schleifgeräuschen« im vorletzten Gedicht der Edition
schließlich »spricht eine Kiefer sich frei«. </p>
<p> Die eigenen Worte zur Sprache zu bringen bedeutet für Celan,
sie hinauszuschicken in einen Raum, wo sie für andere hörbar
werden. 1960, in seiner Büchnerpreis-Rede erklärt er, was
seine Gedichte suchten, sie seien »Wege, auf denen die Sprache
stimmhaft wird, es sind Begegnungen, Wege einer Stimme zu
einem wahrnehmenden Du«. Als Hörer von Celans Lesungen kann
man erleben, wie seine Stimme sich solche Wege bahnt. Ihr
Gehör zu schenken, lohnt sich. </p>
<p> Paul Celan: Todesfuge. Gedichte und Prosa 19521968.
Hörverlag, 2 CDs, 119 min, 18 €. </p>
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