[D66] FAZ: Anna Seghers in Mexiko

R.O. jugg at ziggo.nl
Sat Nov 21 10:30:41 CET 2020


  * 21 Nov 2020
  * Frankfurter Allgemeine Zeitung
  * HANNAH BETHKE


  Wer hört, hat höheres Vergnügen


    Einfühlung tut Abrüstung gut: Volker Weidermann erzählt aus dem
    Leben von Anna Seghers in Mexiko

Mehr als vierhundert Treffer erhält man, wenn man im Katalog der 
Deutschen Nationalbibliothek nach Publikationen über Anna Seghers sucht; 
im internationalen Bibliothekskatalog WorldCat sind es mehr als tausend. 
1900 in Mainz geboren, wuchs die berühmte Schriftstellerin in einer 
jüdischen Familie auf. 1928 trat sie der KPD bei und blieb zeit ihres 
Lebens überzeugte Kommunistin. 1933 floh sie zunächst nach Paris, einige 
Jahre später emigrierte sie nach Mexiko. Nach dem Zweiten Weltkrieg 
kehrte sie zurück nach Deutschland und blieb in der DDR, in Ost-Berlin, 
bis zu ihrem Tod 1983.

/Foto Sammlung Rauch /Anna Seghers, fotografiert vermutlich in Mexiko

Ihr eiserner Glaube an den Kommunismus wirkt mittlerweile aus der Zeit 
gefallen, was der Publikationsdichte an Sekundärliteratur allerdings bis 
heute keinen Abbruch tut. So viel schon ist über Anna Seghers 
geschrieben worden, dass ein weiteres Buch mehr als originell sein muss, 
wenn es neue Leser anlocken soll. Volker Weidermann wählt eine Methode, 
die vom klassischen Weg sowohl einer Biographie als auch einer 
literaturwissenschaftlichen Analyse abweicht. Sein Zugriff ist nicht 
analytisch. Sein Konzept heißt Empathie.

Biographisch beschränkt Weidermann sich auf eine Station im Leben von 
Anna Seghers: das Exil in Mexiko, wo sie mit ihrem Mann und den beiden 
Kindern von 1941 bis 1947 lebte. Hier erlebte sie den Beginn des 
Welterfolgs ihres Romans über die Flucht aus dem Konzentrationslager, 
„Das siebte Kreuz“, hier entstanden die Exilromane „Transit“und „Der 
Ausflug der toten Mädchen“, und hier hatte sie einen Unfall, bei dem sie 
fast zu Tode gekommen wäre und für längere Zeit ihr Gedächtnis verlor.

Wenn Weidermann über Anna Seghers schreibt, geschieht das nicht aus der 
Distanz eines Autors, der Quellenmaterial neu synthetisiert und ein 
bestimmtes Erkenntnisinteresse verfolgt. Weidermann fühlt sich in seine 
Protagonistin ein (oder beansprucht zumindest, es zu tun) und beschreibt 
die Stationen und Themen ihres Lebens wie jemand, der sie sehr gut 
gekannt hat und nun in ihrem Namen spricht. So verfährt er auch – und 
schweift dabei gerne ab – im Falle von allen weiteren Personen, die Anna 
Seghers während deren Exilzeit begegnen: so etwa beim Künstlerpaar Diego 
Rivera und Frida Kahlo oder bei Egon Erwin Kisch.

Oft klingt es so, als wäre Weidermann dabei gewesen. Das mag man als 
Ausweis einer besonders gelungenen Einfühlung werten; methodisch aber 
ist diese Anmaßung, aus vermeintlicher Kenntnis des Innenlebens von 
Protagonisten Sichtweisen, Situationen und menschliche Beziehungen 
beschreiben zu können, äußerst heikel. Denn Weidermann war natürlich 
nicht dabei, er stellt es sich nur so vor. Alles Atmosphärische, alles, 
was in den Bereich von Empfindungen fällt, die durch schriftliche 
Zeugnisse nicht im Detail belegt sind, ist bloßes Produkt seiner 
Phantasie. Dadurch vermischen sich Fakten und Fiktion.

Wenn man den puristischen wissenschaftlichen Anspruch einer sauberen 
Trennung beider Sphären beiseitelässt – was man auch kann, weil das Buch 
ihn gar nicht einlösen will –, gibt es aber noch ein viel größeres 
Problem: die Frage des Stils, und zwar in doppeltem Sinn. Da ist zum 
einen die Schreibweise, zum anderen die Art, sich dem Gegenstand zu 
nähern. Das Konzept der Einfühlung befördert einen distanzlosen Zugriff, 
der mitunter in Voyeurismus umschlägt.

Das anschaulichste Beispiel dafür liefert eine Bildunterzeile, die im 
Buch unter ein Foto von Anna Seghers gesetzt ist, das nach ihrem Unfall 
im Krankenhaus gemacht wurde. „Anna im Schlaf“steht darunter, und man 
sieht sie im Krankenbett, unter einer Decke mit geschlossenen Augen und 
kurzen Haaren, die ihr wegen des Schädelbruchs abgeschnitten werden 
mussten. Dass nur ihr Vorname genannt wird, suggeriert, sie wäre unser 
aller Freundin. Guter Stil wäre dagegen gewesen, so viel Intimität vor 
den Blicken Außenstehender zu schützen – und ein Außenstehender ist auch 
Weidermann, selbst wenn er sich noch so gut vorstellen kann, wie es denn 
gewesen sein mag.

Sein Schreibstil dagegen ist Geschmackssache. Seine Sätze sind 
elliptisch. Er schreibt schwärmerisch, gefühlig, pathetisch. Weidermann 
liebt die gesteigerte Emphase durch Wiederholung einzelner Wörter und 
Wendungen. Wer eine schnörkellose Sprache, Sachlichkeit und Klarheit 
schätzt, ist hier falsch. Der Autor scheut keinen Kitsch: „Eine Wippe im 
Garten, auf und ab, auf und ab, wie eine Waage des Lebens, Waage der 
Kindheit . . . Die Wippe als eine Art Ying [sic] und Yang des 
Lebens.“Oder: „Und hier endlich: die Welt. Endlich ankommen. Endlich die 
Sonne. Willkommen sein. So viel Schönheit. Sicherheit. Weitab, weitab 
von jedem Krieg, jedem Kampf.“Wer durchhält, der erfährt immerhin 
einiges über das Leben der Emigranten in Mexiko, über die Schreibphasen 
von Anna Seghers und über deren unerbittliche Treue zur kommunistischen 
Ideologie.

Dass aber noch weit mehr in diesem Text steckt, als jeder denken könnte, 
der solch emotional aufgeladenem Schreiben nicht zugeneigt ist, zeigt 
der Vergleich mit der von Burghart Klaußner eingelesenen Hörbuchversion 
des Textes. Die ist ein großes Glück für Autor und Leser.

Denn der erfahrene Schauspieler Klaußner macht das Gegenteil dessen, was 
Weidermanns Stil kennzeichnet. Alles Schwärmerische der Sprache betont 
Klaußner gerade nicht, sondern reduziert beim Sprechen den Text auf das 
Wesentliche, nämlich das, was er erzählt. Erst in dieser emotionalen 
Abrüstung wird deutlich, wie spannend die Geschichte eigentlich ist – 
und sogar: wie spannend erzählt. In dieser erstaunlichen Differenz 
zwischen dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort offenbaren sich 
gleichzeitig Stärke und Schwäche des Buchs. Sie macht es aber auch zu 
einem ungeheuer interessanten Projekt, weil der erste Leseeindruck dem 
Klang des Textes nicht entspricht. Wenn man es denn unbedingt lesen 
will, sollte man es danach noch hören.


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