[D66] FAZ: Niedergang der Freiheit

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Sat Nov 21 10:23:29 CET 2020


  * 21 Nov 2020
  * Frankfurter Allgemeine Zeitung
  * Von Rainer Hermann


  Niedergang der Freiheit


    Wie die Covid-19-Pandemie weltweit die Demokratie schwächt

Proteste gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie sind in 
vielen Ländern Teil des Alltags geworden. Wo sie stattfinden können und 
wo die Parlamente die rechtlichen Grundlagen für diesen Kampf der 
Exekutive gegen die Pandemie schaffen, funktionieren Demokratien auch 
unter den neuen Bedingungen. Dass Demokratien mit der Pandemie aber 
Schaden erleiden und dass diese bestehende autoritäre Tendenzen 
verschärft, zeigt ein jüngst erschienener Sonderbericht des 
amerikanischen Freedom House mit dem Titel „Democracy under Lockdown“. 
Das Freedom House ist eine 1941 gegründete Nichtregierungsorganisation 
in Washington. Sie verfolgt das Ziel, liberale Demokratien zu fördern. 
Vom März bis September 2020 befragte sie 398 Fachleute aus 105 Ländern.

Demnach haben sich in 80 der untersuchten 192 Länder seit dem Beginn der 
Pandemie die Bedingungen für die Demokratie und die Menschenrechte 
verschlechtert. Das äußere sich im Missbrauch von exekutiver Macht, in 
der Schwächung von Institutionen, dem Aushöhlen der für ein 
funktionierendes Gesundheitssystem unerlässlichen Rechenschaftspflicht 
und der Verfolgung von Kritikern. Keine nennenswerten Veränderungen 
stellt der Bericht in 111 Ländern fest. Nur in Malawi habe die Pandemie 
die Demokratie gestärkt.

Betroffen sind insbesondere Demokratien, die schon geschwächt waren, und 
repressive Staaten, welche die Pandemie als Chance nutzen, um die 
politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten weiter zu beschränken. 
Zwei von drei Befragten rechnen damit, dass dieser Trend in ihren 
Ländern in den kommenden drei bis fünf Jahren anhalten wird. Die 
Analysten des Freedom House schreiben, dass die Pandemie den seit 14 
Jahren andauernden Niedergang der Freiheit beschleunige, und sie 
erwarten, dass sich die Krise der demokratischen Regierungsführung über 
das Ende der Pandemie hinaus fortsetzen wird.

Besonders auffällig sind – und das gilt für alle Länder, ob sie als 
frei, teilweise frei oder unfrei eingestuft werden – die Beschränkungen 
der Presse- und der Versammlungsfreiheit sowie die Gewalt der Polizei. 
Neue oder zusätzliche Beschränkungen der Pressefreiheit werden in 91 
Ländern festgestellt. Damit versuchten Regierungen, die Zustände in 
ihren Ländern zu verschleiern und der Korruption Vorschub zu leisten, 
beklagt das Freedom House.

Von Beschränkungen der Pressefreiheit betroffen sind freie Länder wie 
die Vereinigten Staaten und Indien, halbfreie Länder wie die Philippinen 
und Bolivien sowie unfreie Länder wie China, Russland und die Türkei. An 
den Vereinigten Staaten wird unter anderem kritisiert, dass Trumps 
Regierungsapparat einen „Nebel von Falschinformationen“produziert habe. 
Für Deutschland stellt das Freedom House keine Verschlechterung der 
Pressefreiheit fest. Hingegen wird etwa in Ägypten die Verbreitung von 
Informationen, die denen der Regierung widersprechen, ausdrücklich unter 
Strafe gestellt.

Eingeschränkt werden zudem die Möglichkeiten, unabhängig zu 
recherchieren und, da Pressekonferenzen wegfallen, kritische Fragen zu 
stellen. Eine unabhängige Berichterstattung wäre dabei umso wichtiger, 
je mehr das Misstrauen gegen die Informationspolitik der Regierungen 
wächst. So geben 62 Prozent der vom Freedom House weltweit Befragten an, 
sie hätten kein Vertrauen in die Zahlen, die ihre Regierungen 
veröffentlichten. Nur 37 Prozent vertrauen den Zahlen. Andererseits 
vertrauen 56 Prozent den Medien, während ihnen 42 Prozent misstrauen.

Polizeigewalt gegen Proteste stellt der Bericht in 59 Ländern fest. 
Ferner gibt jeder vierte Befragte an, in seinem Land gebe es als Folge 
der Pandemie neue oder zusätzliche Beschränkungen für ethnische oder 
religiöse Minderheiten. Vereinzelt dient die Pandemie dazu, fällige 
Wahlen zu verschieben. Das auffälligste Beispiel ist Hongkong, wo die 
Parlamentswahl um ein Jahr auf September 2021 verschoben wurde. Seit dem 
Beginn der Pandemie haben zwar 158 Länder die Möglichkeit eingeschränkt, 
zu protestieren. Weltweit ist es in diesem Jahr dennoch in jedem zweiten 
Land zu Protesten gekommen, überwiegend in halbfreien, aber auch in 
unfreien Ländern.

Vielen Regierungen dient die Pandemie als Vorwand, ihre repressive 
Politik auszuweiten. So könne die türkische Regierung nun tun, was ohne 
die Pandemie nicht möglich gewesen wäre, sagt ein Befragter in der 
Türkei. In großem Maße nehme die Überwachung der Bürger zu, stellt der 
Bericht fest. Als „dystopisches Modell für die Zukunft“nennen die 
Autoren China mit seiner wachsenden nationalistischen und 
propagandistischen Rhetorik, die die Intransparenz und die fehlende 
Rechenschaftspflicht überdecken solle, sowie mit seiner „innovativen 
technologischen Überwachung“und der Verfolgung von Kritikern auch 
außerhalb der Volksrepublik. China gegenüber stellen sie Korea und 
Neuseeland, wo gefestigte Demokratien die Pandemie erfolgreich bekämpften.

Die Gesetze und Praktiken, die in der Pandemie Fuß fassten, seien in der 
Zukunft nur schwierig wieder rückgängig zu machen, warnt Sarah Repucci, 
eine Mitautorin des Berichts. Der Schaden für die Rechte und Freiheiten 
werde die Pandemie lange überdauern, fürchtet sie. In diesem Sinne 
äußert sich auch der israelische Historiker Yuval Noah Harari, der die 
gegenwärtige Krise nicht als Gesundheitskrise abhaken will, sondern sie 
auch als wirtschaftliche und politische Krise diagnostiziert. Die größte 
Gefahr sei, dass es erstmals möglich sei, alle Menschen permanent zu 
überwachen, was das Abgleiten in autoritäre Regime begünstige.

Je länger die pandemiebedingte Rezession dauere, je stärker sie einzelne 
Länder treffe und je größer die Arbeitslosigkeit sein werde, desto 
größer ist auch die Gefahr, dass sich die Opfer der Rezession 
extremistischen Parteien und Ideologien zuwenden, zumal die Unternehmen 
den eingeschlagenen Kurs der Automatisierung beschleunigen und somit 
noch mehr Menschen zu verlieren drohen. Für viele Menschen werde es dann 
keine weitere Arbeit mehr geben, prognostiziert Harari, und das werde 
die politischen Systeme vor eine weitere Belastungsprobe stellen.


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