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</head>
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<ul class="art-meta">
<li>21 Nov 2020</li>
<li>Frankfurter Allgemeine Zeitung</li>
<li>Von Rainer Hermann</li>
</ul>
<h1>Niedergang der Freiheit </h1>
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<h2>Wie die Covid-19-Pandemie weltweit die Demokratie schwächt</h2>
<p>
Proteste gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie
sind in vielen Ländern Teil des Alltags geworden. Wo sie
stattfinden können und wo die Parlamente die rechtlichen
Grundlagen für diesen Kampf der Exekutive gegen die Pandemie
schaffen, funktionieren Demokratien auch unter den neuen
Bedingungen. Dass Demokratien mit der Pandemie aber Schaden
erleiden und dass diese bestehende autoritäre Tendenzen
verschärft, zeigt ein jüngst erschienener Sonderbericht des
amerikanischen Freedom House mit dem Titel „Democracy under
Lockdown“. Das Freedom House ist eine 1941 gegründete
Nichtregierungsorganisation in Washington. Sie verfolgt das
Ziel, liberale Demokratien zu fördern. Vom März bis September
2020 befragte sie 398 Fachleute aus 105 Ländern. </p>
<p>
Demnach haben sich in 80 der untersuchten 192 Länder seit dem
Beginn der Pandemie die Bedingungen für die Demokratie und die
Menschenrechte verschlechtert. Das äußere sich im Missbrauch
von exekutiver Macht, in der Schwächung von Institutionen, dem
Aushöhlen der für ein funktionierendes Gesundheitssystem
unerlässlichen Rechenschaftspflicht und der Verfolgung von
Kritikern. Keine nennenswerten Veränderungen stellt der
Bericht in 111 Ländern fest. Nur in Malawi habe die Pandemie
die Demokratie gestärkt. </p>
<p>
Betroffen sind insbesondere Demokratien, die schon geschwächt
waren, und repressive Staaten, welche die Pandemie als Chance
nutzen, um die politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten
weiter zu beschränken. Zwei von drei Befragten rechnen damit,
dass dieser Trend in ihren Ländern in den kommenden drei bis
fünf Jahren anhalten wird. Die Analysten des Freedom House
schreiben, dass die Pandemie den seit 14 Jahren andauernden
Niedergang der Freiheit beschleunige, und sie erwarten, dass
sich die Krise der demokratischen Regierungsführung über das
Ende der Pandemie hinaus fortsetzen wird. </p>
<p>
Besonders auffällig sind – und das gilt für alle Länder, ob
sie als frei, teilweise frei oder unfrei eingestuft werden –
die Beschränkungen der Presse- und der Versammlungsfreiheit
sowie die Gewalt der Polizei. Neue oder zusätzliche
Beschränkungen der Pressefreiheit werden in 91 Ländern
festgestellt. Damit versuchten Regierungen, die Zustände in
ihren Ländern zu verschleiern und der Korruption Vorschub zu
leisten, beklagt das Freedom House. </p>
<p>
Von Beschränkungen der Pressefreiheit betroffen sind freie
Länder wie die Vereinigten Staaten und Indien, halbfreie
Länder wie die Philippinen und Bolivien sowie unfreie Länder
wie China, Russland und die Türkei. An den Vereinigten Staaten
wird unter anderem kritisiert, dass Trumps Regierungsapparat
einen „Nebel von Falschinformationen“produziert habe. Für
Deutschland stellt das Freedom House keine Verschlechterung
der Pressefreiheit fest. Hingegen wird etwa in Ägypten die
Verbreitung von Informationen, die denen der Regierung
widersprechen, ausdrücklich unter Strafe gestellt. </p>
<p> Eingeschränkt werden zudem die Möglichkeiten, unabhängig zu
recherchieren und, da Pressekonferenzen wegfallen, kritische
Fragen zu stellen. Eine unabhängige Berichterstattung wäre
dabei umso wichtiger, je mehr das Misstrauen gegen die
Informationspolitik der Regierungen wächst. So geben 62
Prozent der vom Freedom House weltweit Befragten an, sie
hätten kein Vertrauen in die Zahlen, die ihre Regierungen
veröffentlichten. Nur 37 Prozent vertrauen den Zahlen.
Andererseits vertrauen 56 Prozent den Medien, während ihnen 42
Prozent misstrauen. </p>
</div>
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<p> Polizeigewalt gegen Proteste stellt der Bericht in 59
Ländern fest. Ferner gibt jeder vierte Befragte an, in seinem
Land gebe es als Folge der Pandemie neue oder zusätzliche
Beschränkungen für ethnische oder religiöse Minderheiten.
Vereinzelt dient die Pandemie dazu, fällige Wahlen zu
verschieben. Das auffälligste Beispiel ist Hongkong, wo die
Parlamentswahl um ein Jahr auf September 2021 verschoben
wurde. Seit dem Beginn der Pandemie haben zwar 158 Länder die
Möglichkeit eingeschränkt, zu protestieren. Weltweit ist es in
diesem Jahr dennoch in jedem zweiten Land zu Protesten
gekommen, überwiegend in halbfreien, aber auch in unfreien
Ländern. </p>
<p> Vielen Regierungen dient die Pandemie als Vorwand, ihre
repressive Politik auszuweiten. So könne die türkische
Regierung nun tun, was ohne die Pandemie nicht möglich gewesen
wäre, sagt ein Befragter in der Türkei. In großem Maße nehme
die Überwachung der Bürger zu, stellt der Bericht fest. Als
„dystopisches Modell für die Zukunft“nennen die Autoren China
mit seiner wachsenden nationalistischen und propagandistischen
Rhetorik, die die Intransparenz und die fehlende
Rechenschaftspflicht überdecken solle, sowie mit seiner
„innovativen technologischen Überwachung“und der Verfolgung
von Kritikern auch außerhalb der Volksrepublik. China
gegenüber stellen sie Korea und Neuseeland, wo gefestigte
Demokratien die Pandemie erfolgreich bekämpften. </p>
<p> Die Gesetze und Praktiken, die in der Pandemie Fuß fassten,
seien in der Zukunft nur schwierig wieder rückgängig zu
machen, warnt Sarah Repucci, eine Mitautorin des Berichts. Der
Schaden für die Rechte und Freiheiten werde die Pandemie lange
überdauern, fürchtet sie. In diesem Sinne äußert sich auch der
israelische Historiker Yuval Noah Harari, der die gegenwärtige
Krise nicht als Gesundheitskrise abhaken will, sondern sie
auch als wirtschaftliche und politische Krise diagnostiziert.
Die größte Gefahr sei, dass es erstmals möglich sei, alle
Menschen permanent zu überwachen, was das Abgleiten in
autoritäre Regime begünstige. </p>
<p> Je länger die pandemiebedingte Rezession dauere, je stärker
sie einzelne Länder treffe und je größer die Arbeitslosigkeit
sein werde, desto größer ist auch die Gefahr, dass sich die
Opfer der Rezession extremistischen Parteien und Ideologien
zuwenden, zumal die Unternehmen den eingeschlagenen Kurs der
Automatisierung beschleunigen und somit noch mehr Menschen zu
verlieren drohen. Für viele Menschen werde es dann keine
weitere Arbeit mehr geben, prognostiziert Harari, und das
werde die politischen Systeme vor eine weitere Belastungsprobe
stellen.</p>
</div>
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