[D66] FAZ: Die ratlose Republik und ihre Impfgegner
R.O.
jugg at ziggo.nl
Wed Nov 18 19:07:50 CET 2020
* 18 Nov 2020
* Frankfurter Allgemeine Zeitung
* Von Michaela Wiegel, Paris
Die ratlose Republik und ihre Impfgegner
In Frankreich zieht ein Film, der wilde Verschwörungstheorien über
die Verbreitung des Coronavirus verbreitet, ein Millionenpublikum in
seinen Bann. Woran liegt das?
Die französische Ärztin Christine Spitz hat in der Pandemie einen
einfachen Rat an ihre Landsleute: „Machen Sie genau das Gegenteil von
dem, was man Ihnen im Fernsehen erzählt.“Die Medizinerin im weißen
Kittel tritt in dem französischen Dokumentarfilm „Hold-up“auf, der
mitten im Lockdown ein Millionenpublikum gefunden hat. Geschickt werden
darin reelle Missstände wie die Ausflüchte prominenter
Regierungsmitglieder zur Maskenknappheit oder zu fehlenden
Testkapazitäten bei Ausbruch der Pandemie mit wilden
Verschwörungstheorien vermischt. Eindeutiger Held des Films, der am 11.
November veröffentlicht wurde, ist der Marseiller Mediziner Didier
Raoult – obwohl er selbst nicht auftritt. Die von Raoult empfohlene
Behandlung von Covid-19-Patienten mit dem Malariamittel
Hydroxychloroquin sowie mit dem Antibiotikum Azithromycin wird von
französischen Ärzten und dem ehemaligen Gesundheitsminister Philippe
Douste-Blazy als Wundermittel gefeiert, das vorgeblich von einer
unheiligen Allianz aus profitgierigen Pharmaunternehmen und
überheblichen Regierungseliten verboten worden sei.
/Foto Reuters /Leere in Zeiten des Lockdowns: Die Strandpromenade von
Saint-Jean-de-Monts an der „Côte de Lumière“
Douste-Blazy hat sich inzwischen von dem Film mit dem Untertitel
„Rückblick auf ein Chaos“distanziert. Er fühle sich getäuscht, sagte der
frühere Minister und Kardiologe, nachdem er entdeckt habe, wie er als
Kronzeuge für eine Weltverschwörung herhalten musste. Denn „Hold-up“will
ein weltumspannendes Komplott aufdecken, das hinter der Pandemie stecke
und von dem sich Bill Gates und andere durchtriebene Geschäftemacher
nichts weniger als das Ersetzen des Bargelds durch Kreditkarten, die
Zwangseinführung der 5G-Technologie sowie große Gewinne aus gefährlichen
Impfungen versprächen. Zwar werden hauptsächlich Franzosen befragt, aber
der Filmemacher Pierre Barnérias-Desplas lässt auch einen britischen
Chemienobelpreisträger, einen früheren Manager des Pharmakonzerns Pfizer
und den deutschen Anwalt Reiner Füllmich zu Wort kommen, der Klagen
gegen den Virologen Christian Drosten und den Leiter des Robert
Koch-Instituts, Lothar Wieler, angestrengt hat.
Die Soziologin Monique Pinçon-Charlot, deren Bücher über das
Großbürgertum von französischen Linken als Standardwerke gefeiert
wurden, argwöhnt in dem Film, dass die Pandemie dazu diene, „die Ärmsten
der Menschheit auszulöschen, weil die Reichen sie nicht mehr brauchen“.
Die Pandemie sei wie der Holocaust, behauptete sie. Inzwischen hat
Pinçon-Charlot sich für den HolocaustVergleich entschuldigt und gesagt,
ihre Aussagen seien aus dem Zusammenhang gerissen worden. Aber die
Richtigstellungen haben nichts daran geändert, dass sich der Film
ungebrochener Beliebtheit erfreut. Große Videoplattformen wie Vimeo
haben ihn zwar aus dem Programm genommen, aber über soziale Netzwerke
wie Snapchat, Instagram oder Youtube werden weiterhin Raubkopien oder
Ausschnitte geteilt. Der Fernsehsender CNews, der sich als französisches
Pendant zu Fox News sieht, stellte „Hold-up“mit einem Interview des
Filmemachers vor, ohne dass es zu kritischen Rückfragen oder einer
Einordnung durch die Redaktion kam. Die Schauspielerin Sophie Marceau,
die ganz oben auf der Popularitätsliste französischer Filmstars steht,
empfahl „Hold-up“weiter. Das wiederum gefiel Carla Bruni-Sarkozy, die
das in einem „like“auf Facebook ausdrückte. Auch der bekannte Rapper
Stomy Bugsy (mit bürgerlichem Namen Gilles Duarte) hat seinen Fans
„Hold-up“ans Herz gelegt. Ein früherer Wortführer der
„Gelbwesten“-Bewegung, Maxime Nicolle, verbreitete den Film weiter.
Der Erfolg des Films sagt viel über die Befindlichkeit Frankreichs 20
Tage nach Beginn des zweiten Lockdowns mit strikten
Ausgangsbeschränkungen aus. Anders als in Deutschland hat es die sonst
so protestierfreudigen Franzosen nicht auf die Straße gezogen. Bilder
von demonstrierenden Corona-Leugnern gibt es nicht. Aber in etlichen
Wohnstuben und Homeoffices braut sich eine Mischung aus Ohnmacht und Wut
zusammen, die für Verschwörungstheorien empfänglich macht.
Schon im Februar 2019 hatte das Meinungsforschungsinstitut Ifop in einer
Untersuchung herausgefunden, wie viel Erfolg Verschwörungsthesen in
Frankreich haben. Jeder fünfte Befragte stimmte mehreren
Komplottszenarien zu, unter ihnen auffallend viele junge Franzosen. 43
Prozent gaben Anfang 2019 an, die Regierung stecke mit der
Pharmaindustrie unter einer Decke, um die Gefährlichkeit von Impfstoffen
zu vertuschen. Das politikwissenschaftliche Institut der Universität
Grenoble hat in einer großangelegten Studie das Profil der Bewunderer
des Mediziners Raoult und der Maskengegner untersucht, die im September
veröffentlicht wurde. Raoult-Bewunderer glaubten demnach
überdurchschnittlich oft an Verschwörungstheorien. Der
Politikwissenschaftler Antoine Bristielle, der die Untersuchung leitete,
fand heraus, dass sie zudem zu 96 Prozent glauben, die etablierten
Medien würden ihnen Informationen verheimlichen.
Es gebe einen direkten Zusammenhang zwischen einem ausgeprägten
Misstrauen in die Institutionen, insbesondere in die politisch
Verantwortlichen, und die Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien.
Bristielle wies den Eindruck zurück, dass es sich dabei hauptsächlich um
Franzosen mit geringem Bildungsstand handele. „Unter den Befragten waren
36 Prozent Beschäftigte mit Führungsaufgaben. Es handelt sich um
Personen mit Abitur und im Durchschnitt zwei Jahren akademischer
Ausbildung, unter ihnen mehr als 60 Prozent Frauen“, sagte Bristielle in
einem Radiogespräch. 43 Prozent der Befragten gaben an, dass sie sich
nicht mit einer Impfung vor dem Coronavirus schützen wollten, auch wenn
ein Impfstoff zur Verfügung stehe. „Frankreich ist innerhalb Europas das
Land, das die meisten Impfgegner zählt“, sagte Bristielle. Die Regierung
beobachtet bislang hilflos gesellschaftliche Phänomene wie „Holdup“oder
Impfgegner.
Das Krisenmanagement in der Pandemie-Zeit hat ein Schlaglicht auf den
monarchischen Charakter der Institutionen der V. Republik geworfen, die
1958 unter der Bedrohung des algerischen Bürgerkriegs entstanden. Nie
war das 1964 geschriebene Pamphlet François Mitterrands über den
„ständigen Staatsstreich“aktueller. Denn der von Republikbegründer
Charles de Gaulle gewünschte „rationalisierte Parlamentarismus“, eine
diplomatische Umschreibung der auf ein Minimum beschränkten
parlamentarischen Kontrollmechanismen, ist im Gesundheitsnotstand seinen
Namen nicht mehr wert. Präsident Macron nutzt die Machtfülle, die ihm
die Verfassung gibt, um die wichtigsten Entscheidungen über
Ausgangssperren oder Lockdown im sogenannten Verteidigungsrat in der
bombensicheren Kommandozentrale im Untergeschoss des Elysée-Palastes zu
fällen.
Während das Gros der Franzosen duldsam auf „die Rückkehr der glücklichen
Tage“wartet, die Macron ihnen bereits im Juni in einer seiner
feierlichen Ansprachen in Aussicht stellte, staut sich bei einer
Minderheit die Wut. Unter den Zornigen sind viele, die sich den
„Gelbwesten“-Protesten angeschlossen hatten und die von den
Einschränkungen besonders getroffen wurden: Einzelhändler, die keine
Lebensmittel verkaufen und deshalb als „nicht wesentlich“gelten und ihre
Läden schließen mussten, Selbständige wie Friseure oder Kosmetikerinnen,
die derzeit im Namen des Seuchenschutzes nicht arbeiten dürfen. Als
bürokratische Schikanen empfundene Maßnahmen wie die Selbstatteste für
jeden Gang vor die eigene Haustür und Verbote wie die
Ein-Kilometer-Radius-Regel für Spaziergänger und Freizeitsportler
verstärken die Wut auf die Regierung.
Dabei ist die „bürokratische Spirale aus immer neuen Vorschriften keine
Eigenart dieser Regierung oder dieser Epoche“, wie der
bürgerlich-liberale Bürgermeister von Cannes, David Lisnard, in einem
vielbeachteten Beitrag für „Le Figaro“schrieb. Als Ursache für viele
überflüssige Verbote und Vorschriften sieht er „den Mangel an
staatlicher Autorität im heutigen Frankreich“. Das öffne erst Tür und
Tor für Verschwörungstheoretiker und Aufgebrachte, die von einer
autoritären Restauration träumten. „Unsere Regierenden schüren das
Misstrauen, schrieb Lisnard. „Was wird die Folge sein?“
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