[D66] Die Antiquiertheit des Menschen
R.O.
jugg at ziggo.nl
Mon May 25 16:18:31 CEST 2020
- Günther Anders. Philosophieren im Zeitalter der technologischen
Revolutionen.
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deutschlandfunk.de
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Alles prädestinierte Anders für eine regelrechte akademische Laufbahn.
1902 als Günther Sigmund Stern in Breslau geboren, ging er als Sohn der
Psychologen Clara und William Stern, in seiner Eigenschaft als
kindliches Studienobjekt, früh in die Forschungsliteratur ein: /Person
und Sache/ war das Buch des Vaters betitelt, womit dieser die
personalistische Psychologie begründen sollte. Der Titel klingt wie eine
Themenvorgabe für den Sohn.
Anders studiert bei Cassirer und Panofsky Philosophie und
Kunstgeschichte, schließlich in Freiburg bei Heidegger und Husserl, bei
dem er im Alter von 21 Jahren promoviert. Der Versuch jedoch, sich mit
einer Abhandlung zur Musikrezeption bei Paul Tillich zu habilitieren,
scheitert 1929. Der junge Philosoph, inzwischen mit Hannah Arendt
verehelicht, lässt sich 1930 in Berlin nieder, wo er regelmäßig für den
Börsen-Courier schreibt. Von diesem Moment an wählt er sich 'Anders' als
Pseudonym, mehr vielleicht: als eine im Namen mitschwingende
Selbstverpflichtung, Nonkonformismus, Anders-Sein zu leben und stets ein
kritisches 'Aber' zu artikulieren? Der Nationalsozialismus zwingt den
Juden 1933 zur Emigration nach Paris. Im Gegensatz zu Walter Benjamin
gelingt ihm drei Jahre darauf die Weiterflucht in die USA, wo er sich
zeitweise als Fabrikarbeiter durchschlagen muss, selbst wenn er mit
anderen Emigranten wie Brecht, Thomas Mann, Alfred Döblin, Marcuse oder
Adorno verkehrt und für die Zeitschrift für Sozialforschung rezensiert.
Bevor es zur Veröffentlichung seines Hauptwerks kam, /Die Antiquiertheit
des Menschen/, 1956, war Anders 1950 nach Europa zurückgekehrt und hatte
diverse Lehrstuhlangebote - sowohl von ostdeutscher als auch von
westdeutscher Seite - abgelehnt.
In seiner kompakten Studie über Anders' Philosophieren bemüht sich
Liessmann, die Linien von der frühen negativen Anthropologie
nachzuzeichnen, die dann in der These von der Antiquiertheit des
Menschen gipfeln. Was Anders zum Nihilisten, zumindest zum unheilbaren
Skeptiker hätte disponieren können, verkehrt sich unter den historischen
Ereignissen des Jahres 45 zu einer engagierten Philosophie. Mit dem
Atombombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki sowie den in den Nürnberger
Prozessen verhandelten millionenfachen Tötungen in den
Konzentrationslagern vollzieht er gleichsam einen Paradigmenwechsel vom
'Mensch ohne Welt' zur 'Welt ohne Mensch'.! Diese "philosophische
Anthropologie im Zeitalter der Technokratie" entzündet sich also an den
Tragödien von Auschwitz und Hiroshima. /Die Antiquiertheit des Menschen/
verweist ganz allgemein auf die Diskrepanz Mensch/technologisches
Universum, die Kluft zwischen Homo sapiens und seinen technischen
Erfindungen, die Anders als prometheisches Gefälle zwischen "Gerät" und
"Leib", "Machen" und "Vorstellen", "Tun" und "Fühlen" bezeichnet./^Am
Fließband hatte er leibhaftig erfahren, was Automation bedeutet. "Man
glaubt kein Ende, man sieht kein Ende -der Fortschrittsbegriff hat uns
apokalypseblind gemacht." Im Stil seiner "Übertreibungen in Richtung
Wahrheit" zugespitzt formuliert: die Technik sei zum "Subjekt der
Geschichte" in der "Volksgemeinschaft der Apparate" gewordenl Barbarei
ist für Anders die unmittelbare Konsequenz der Technokratie: sei es die
"fabrikmäßige Liquidierung von Menschenmassen" in allen Lagern der Welt,
sei es das nicht minder sadistische Verdampfen, Verstrahlen, Verstümmeln
hunderttausender japanischer Zivilisten durch die Atombombe. Es sind
dies nur zwei Beispiele für "Leichenherstellung" im Großmaßstab, die
sich dem (psychologischen Gesetz verdanken, daß dem Einzelnen das Töten
um so leichter fallt, je größer sein Abstand zum Opfer ist, d.h. je
unsichtbarer und somit abstrakter für den Täter die subjektiven Qualen
des jeweiligen ,Menschenmaterials' sind. Bisher haben Konventionen
verhindere chemische oder bakterielle Massenvernichtungswaffen in
Kriegen zum Einsatz kamen - andererseits weist nichts darauf hin, dass
die Militärs einschlägige Forschungen eingestellt hätten. Mit Hiroshima
und Nagasaki beginnt insofern eine neue Zeitrechnung, als die Fähigkeit
der Menschheit, sich selbst auszulöschen, demonstriert wurde. Führte die
/Die Antiquiertheit des Menschen/ 1956 noch die "Seele" im Untertitel,
so wird im 1980 erschienenen Folgeband die "Zerstörung des Lebens im
Zeitalter der dritten industriellen 'Revolution' prognostiziert. Nicht
mehr steht nur die gewissermaßen narzisstische Kränkung des Mängelwesens
Mensch durch vermeintlich perfekte Technik zur Debatte. Genforscher wie
auch Informatiker scheinen daran zu arbeiten - unter dem Vorwand, das
Auslaufmodell zu optimieren -, die Spezies Mensch überflüssig werden zu
lassen. Für Anders birgt die Emanzipation des homo faber zum homo
creator die Gefahr seiner Selbstabschaltung. Die harte, apokalyptische
Variante erblickte er im künstlich produzierten Element Plutonium -jedes
Kernkraftwerk galt ihm als potentielle Atombombe. In der Entzifferung
des menschlichen Genoms und in der Folge davon: der Genmanipulation und
dem Klonieren, wollte er die weiche Variante sehen, den Menschen zum
Rohstoff für die Produktion neuartiger Produkte oder Produktionsmittel"
zu degradieren. Wenn wir die Welt als eine "auszubeutende Mine"
behandeln, könnte in Analogie dazu, schreibt er, die Frage nach dem
Wesen des Menschen, "wenn der Mensch als Rohstoff ad libitum benutzt
werden würde, vollends sinnlos werden".
Die polemischen Äußerungen dieses Ketzers zu den Medien Fotografie,
Radio und Femsehen } verstehen sich fast von selbst, konditionieren sie
doch unser Verhalten maßgeblich. "Nachrichten" werden von Anders als
camouflierte Urteile, Wertungen entlarvt, im noch jungen Femsehen komme
die Welt lediglich als "Phantom und Matritze" vor. Jean Baudrillard wird
dies als Simulation denunzieren. Anders revidiert gelegentlich sein
Urteil -insbesondere im Hinblick auf die Auswirkungen der
Vietnam-Kriegsbericht-Dokumentationen. Fatalerweise aber hat das Diktum
"im Anfang war die Sendung, für sie geschieht die Welt", bei manchen
Formaten nichts an Gültigkeit eingebüßt.
Als der Vielgeehrte 1992 in Wien starb, verstummte ein streitbarer
Moralist und Fortschrittskritiker vom Rang eines Erwin Chargaff, Guido
Ceronetti oder E.M. Cioran. Er hatte als Frage formuliert, was gewiss
seine Lebensmaxime war: "Sollte Leben - Nonkonformismus sein?
Zum Vorteil für den Leser stellt Konrad Paul Liessmann nicht allein
Anders' Leben und Werk dar, sondern überträgt dessen Themen in unsere
technologisch hochgerüstete Gegenwart.
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