[D66] Wer hat an der Uhr gedreht? Sicher kein Philosoph!

J.N. jugg at ziggo.nl
Tue Mar 15 08:18:27 CET 2016


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Literarische Welt
Rüdiger Safranski Zeit: Rezension eines Entschleunigungs-Essays


Kultur Zeitdruck
30.08.15
Wer hat an der Uhr gedreht? Sicher kein Philosoph!

Unsere Gesellschaft wird immer schneller. Job, Freizeit, alles
durchgetaktet. Die Eile mag uns nicht gut tun, aber sie hat ihren Grund:
Das, was wir alles vorhaben, ist zu viel für ein Menschenleben.

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Von Mladen Gladić

Von den Folgen der deutschen Besetzung der Niederlande im Mai 1940 wird
eine nur den wenigsten bekannt sein: Man musste die Uhren um exakt
hundert Minuten umstellen. Nach vorne. Seit 1909 hatte hier die
Amsterdamse Tijd, die Amsterdamer Zeit, gegolten. Eine Stunde und
zwanzig Minuten wich sie von der Universalzeit ab, die sich am
Nullmeridian im Londoner Stadtteil Greenwich orientiert. Bis zur
gewaltsamen Zeitumstellung hatte die Ortszeit des Kirchturms der
Amsterdamer Westerkerk gegolten.

Dessen Glockenschlag informierte übrigens auch die im Verborgenen
lebenden Anne Frank im Viertelstundentakt über die aktuelle Uhrzeit, bis
man die Glocken im August 1943 abmontierte, um sie zwecks Verwendung als
Kriegsmaterial einzuschmelzen. Der Glockenton hatte das Mädchen oft in
seiner verzweifelten Lage getröstet. Da war die Kirchturmuhr aber schon
auf Berliner Zeit umgestellt. Sie heißt heute mitteleuropäische Zeit und
gilt noch immer – auch in den Niederlanden. Zeit als Zwang und Trost –
vieles über die Zeit und das, was wir dafür halten, lässt sich aus
dieser Episode lernen.

Heute verrät uns der Blick auf die Armbanduhr oder das Display unseres
Smartphones die Uhrzeit. Nächster Gedanke: dass wir schon wieder
irgendwo hinmüssen, dass es schon später ist als gedacht, dass dies und
das erledigt werden muss. Die Uhr, deren stetig fortschreitende Zeiger
uns zu sagen scheinen, dass sie knapp wird, "hat dafür gesorgt, dass
sich die Zeit tief ins bewusste und unbewusste Leben eingräbt", schreibt
Rüdiger Safranski in seinem neuen Buch "Zeit".


Dabei halten wir das, was die Zeitmessung aus der Zeit macht, für die
Zeit selbst. Doch Zeit, so Safranski, ist nichts, "das taktmäßig wie der
Sekundenzeiger voranschreitet". Selbst wer auf die Zeiger seiner Uhr
starrt, wird nicht der Zeit an sich gewahr, sondern nur der Ereignisse,
die in ihr geschehen, und sei es nur ein monotones Ticken.

Kaum fassbar ist sie, die Zeit, trotz aller Instrumente, mit denen wir
sie messen – mit gewaltigen Folgen für den Einzelnen und das
Miteinander. Für Safranski sind die Effekte, die sich daraus ergeben,
dass die Uhr, zuerst an den Kirchtürmen, dann in den Fabriken und
schließlich an unseren Handgelenken zur Norm wurde, keineswegs positiv.
Denn die Verwechslung "vergesellschafteter" und "bewirtschafteter" Zeit
mit dem, was Zeit eigentlich ist, sei selbst schon das Ergebnis einer
Transformation.

Jemand hat diese Uhren gestellt, nach denen wir wie selbstverständlich
unsere Leben ausrichten. Und uns damit ähnliche Gewalt angetan wie die
Nazis 1940 den Niederländern. Trotzdem glauben wir, dass es unser
eigener Rhythmus ist, dem wir folgen, unsere "Eigenzeit". Die
"öffentliche Zeit der Uhren, welche die Arbeit und den Verkehr regelt" –
wir haben sie verinnerlicht, als "Zeitgewissen".

Das Zeitregime, das uns unsere immer schneller werdende Gesellschaft als
unser eigenes vorgaukelt, ist strikt: Arbeitszeiten sind genau geregelt,
es gibt feste Zeitfenster für Freizeit, Schule und Ausbildung. Zeit ist
immer knapp: Deadlines bei Prüfungen und Fristen bei Krediten; im
kapitalistischen Wettbewerb muss man Zeit gewinnen, neue Produkte früher
als die Konkurrenz auf den Markt bringen. Optimale Nutzung, Einsparung
von Zeit wird zum Zwang. Zeitdruck verwandelt sie in ein Objekt, das
"verschleudert, verwertet, bewirtschaftet" wird.
Ob das entschleunigt? Die tschechische Uhrenfabrik Prim Clock stellt
auch Wecker her, die rückwärts gehen

Zeit ist Geld: An der Geschichte, wie die Zeit zu einer Sache werden
konnte, die immer kostbarer wird, je weniger wir von ihr haben,
schreiben unsere Chronometer mit, von der Sanduhr bis zur Google Watch.
Doch Safranski kennt auch einen existenziellen Grund dafür, warum wir
uns gänzlich der gesellschaftlichen Betriebsgeschwindigkeit ausliefern
(selbst wenn wir uns dabei so fühlen, als habe man uns auf ein sich
immer schneller drehendes Rad geflochten): Wir alle wissen, dass wir
eines Tages sterben müssen. Nur wissen wir nicht, wann das sein wird.

Das aber, was wir noch vorhaben, ist meist zu viel für ein
Menschenleben. Deshalb die allgemeine Hast, auch wenn sie uns nicht
guttut. Die letzte Frist, die absolute Deadline, man möchte nicht
wirklich an sie denken, weshalb sich auch kaum einer Zeit für sich
selbst nimmt. Selbst ein Robinson, fernab von anderen, schafft sich
einen Kalender, um im Gleichtakt mit den Menschen in der englischen
Heimat zu bleiben. So bleibt er nicht auf sich selbst zurückgeworfen,
fühlt sich weniger einsam: "Warum? Vielleicht gerade deshalb, weil das
Sachliche ablenkt, wohingegen das Persönliche näher an der Existenz
ist", vermutet Safranski.

Allen, die ihrer eigenen Sterblichkeit nicht ins Auge sehen wollen,
empfiehlt Safranski Vorsicht beim Versuch, Zeit mit sich selbst zu
verbringen. Das ist heideggerianisch gedacht. Diesem deutschen "Meister"
hat Safranski bereits eine Monografie gewidmet. Der Philosoph aus dem
Schwarzwald, Stichwortgeber für vieles in diesem Buch, hätte solches
Augenverschließen vor der eigenen Mortalität als Uneigentlichkeit abgetan.

Wie alltagstauglich ist die intelligente Uhr von Apple? "Welt"-Experte
Thomas Heuzeroth hat sie ausgiebig getestet und erklärt, wer sie braucht
und wo ihre größten Schwächen liegen. Quelle: Die Welt

Wie jeder "Jargon der Eigentlichkeit" ist Safranskis Zeitdiagnose
kultur- und zivilisationskritisch gedacht. Mit Heidegger und der
deutschen Romantik (auch über sie hat er ein Buch geschrieben) teilt
Safranski eine Fortschrittskritik, die sich nicht auf "persönliche
Zeithygiene" zurückziehen will. Und er gibt sich nicht zufrieden damit,
lediglich Tipps für den Privatgebrauch von "Zeit" zu geben. Tipps, wie
man sie heutzutage in Ratgebern lesen kann, die allesamt um das
Zauberwort "Entschleunigung" kreisen.

Safranski will mehr, denn der "rasende Stillstand", in dem wir uns
befinden, birgt extreme Gefahren. Etwa für die Umwelt, durch
beschleunigte Produktion, beschleunigten Konsum und immer größere
Mobilität. Gefahren der Verwahrlosung, als Effekt des medialen
Trommelfeuers, das stetig auf uns einprasselt: Zeitpathologien wie
Depression und Hysterie kommen zum Vorschein.

Die Transaktionsgeschwindigkeiten an den Börsen, schreibt Safranski,
haben mittlerweile fast Lichtgeschwindigkeit erreicht, während
demokratische Entscheidungsprozesse einen langen Atem brauchen.
Synchronisationsprobleme entstehen, wenn die Eigenzeiten der jeweiligen
Sphären, sei es die des Lebens oder die der Politik, nicht
berücksichtigt werden.

Und diese Probleme können fatal sein, denn das Schicksal ganzer Staaten
liegt in der Hand der Märkte, die sich für Safranski im Blindflug
befinden. Immer nur auf das Jetzt bezogen, kennen sie kein Vorher oder
Später, was aber die eigentliche Zeiterfahrung ausmacht. Die Besinnung
auf die langfristigen Folgen ihrer Handlungen geht auch denen ab, die
keine Kinder mehr kriegen. Wo alles auf ein Jetzt schrumpft, handelt man
frei nach dem Faust-Wort "Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, /
Will ich in meinem innern Selbst genießen."

Deshalb hat es Nachhaltigkeit, die ja eine Sorge – ein weiterer
Schlüsselbegriff Heideggers – für und um die Zukunft voraussetzt, so
schwer in unseren Gesellschaften. Wir haben die Mentalität von
"Endverbrauchern" entwickelt, glaubt Safranski.

An dieser Stelle wird der Autor, der mit seinen Büchern über die
"Meister aus Deutschland", über Goethe, Schiller, Heidegger oder
Nietzsche dem interessierten Bürger in Deutschland auch immer
nahebringen wollte, dass "ein bisschen deutscher Sonderweg in geistigen
Dingen" sehr wohl geht, wie er es 2006 bei der Verleihung des
Literaturpreises dieser Zeitung genannt hat, plötzlich revolutionär, als
erinnerte er sich an sein Studium in Frankfurt und seine
Gründungsmitgliedschaft in der maoistischen KPD/AO in den frühen
Siebzigerjahren.

Dass "eine neue Zeit-Politik, eine Revolution des gesellschaftlichen
Zeitregimes, das den Schutz und die Entfaltungsmöglichkeiten der
jeweiligen Eigenzeiten einbezieht, psychologisch, kulturell,
wirtschaftlich" jetzt vonnöten ist, davon ist er überzeugt. Wie die
aussehen soll, ob sie ein Sonderweg wäre oder nur global durchzusetzen
und wie, darüber hüllt sich der philosophierende Bestseller-Autor
freilich weitgehend in Schweigen. Dabei hätte man gern mehr darüber
gelesen und vielleicht auch darüber, wie die Zeit der Märkte und der
Börsen nun eigentlich aussieht.



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