[D66] Walter Benjamin – Kapitalismus als Religion

Oto jugg at ziggo.nl
Thu Dec 4 14:25:34 CET 2014


      Walter Benjamin – Kapitalismus als Religion – Fragment (1921)
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2. November 2009
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    Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der
    Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen,
    Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort
    gaben. Der Nachweis dieser religiösen Struktur des Kapitalismus,
    nicht nur, wie Weber meint, als eines religiös bedingten Gebildes,
    sondern als einer essentiell religiösen Erscheinung, würde heute
    noch auf den Abweg einer maßlosen Universalpolemik führen. Wir
    können das Netz in dem wir stehen nicht zuziehn. Später wird dies
    jedoch überblickt werden.
    Drei Züge jedoch sind schon der Gegenwart an dieser religiösen
    Struktur des Kapitalismus erkennbar. Erstens ist der Kapitalismus
    eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben
    hat. Es hat in ihm alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den
    Kultus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine
    Theologie. Der Utilitarismus gewinnt unter diesem Gesichtspunkt
    seine religiöse Färbung. Mit dieser Konkretion des Kultus hängt ein
    zweiter Zug des Kapitalismus zusammen: die permanente Dauer des
    Kultus. Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans rêve
    et sans merci. Es gibt da keinen „Wochentag“< ,> keinen Tag der
    nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen
    sakralen Pompes< ,> der äußersten Anspannung des Verehrenden wäre.
    Dieser Kultus ist zum dritten verschuldend. Der Kapitalismus ist
    vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern
    verschuldenden Kultus. Hierin steht dieses Religionssystem im Sturz
    einer ungeheuren Bewegung. Ein ungeheures Schuldbewußtsein das sich
    nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld
    nicht zu sühnen, sondern universal zu machen, dem Bewußtsein sie
    einzuhämmern und endlich und vor allem den Gott selbst in diese
    Schuld einzubegreifen< ,> um endlich ihn selbst an der Entsühnung zu
    interessieren. Diese ist hier also nicht im Kultus selbst zu
    erwarten, noch auch in der Reformation dieser Religion, die an etwas
    Sicheres in ihr sich müßte halten können, noch in der Absage an sie.
    Es liegt im Wesen dieser religiösen Bewegung, welche der
    Kapitalismus ist< ,> das Aushalten bis ans Ende< ,> bis an die
    endliche völlige Verschuldung Gottes, den erreichten Weltzustand der
    Verzweiflung auf die gerade noch gehofft wird. Darin liegt das
    historisch Unerhörte des Kapitalismus, daß Religion nicht mehr
    Reform des Seins sondern dessen Zertrümmerung ist. Die Ausweitung
    der Verzweiflung zum religiösen Weltzustand aus dem die Heilung zu
    erwarten sei. Gottes Transzendenz ist gefallen. Aber er ist nicht
    tot, er ist ins Menschenschicksal einbezogen. Dieser Durchgang des
    Planeten Mensch durch das Haus der Verzweiflung in der absoluten
    Einsamkeit seiner Bahn ist das Ethos das Nietzsche bestimmt. Dieser
    Mensch ist der Übermensch, der erste der die kapitalistische
    Religion erkennend zu erfüllen beginnt. Ihr vierter Zug ist, daß ihr
    Gott verheimlicht werden muß, erst im Zenith seiner Verschuldung
    angesprochen werden darf. Der Kultus wird von einer ungereiften
    Gottheit zelebriert, jede Vorstellung, jeder Gedanke an sie verletzt
    das Geheimnis ihrer Reife.
    Die Freudsche Theorie gehört auch zur Priesterherrschaft von diesem
    Kult. Sie ist ganz kapitalistisch gedacht. Das Verdrängte, die
    sündige Vorstellung, ist aus tiefster, noch zu durchleuchtender
    Analogie das Kapital, welches die Hölle des Unbewußten verzinst. Der
    Typus des kapitalistischen religiösen Denkens findet sich großartig
    in der Philosophie Nietzsches ausgesprochen. Der Gedanke des
    Übermenschen verlegt den apokalyptischen „Sprung“ nicht in die
    Umkehr, Sühne, Reinigung, Buße, sondern in die scheinbar stetige, in
    der letzten Spanne aber sprengende, diskontinuierliche Steigerung.
    Daher sind Steigerung und Entwicklung im Sinne des „non facit
    saltum“ unvereinbar. Der Übermensch ist der ohne Umkehr angelangte,
    der durch den Himmel durchgewachsne, historische Mensch. Diese
    Sprengung des Himmels durch gesteigerte Menschhaftigkeit, die
    religiös (auch für Nietzsche) Verschuldung ist und bleibt< ,> hat
    Nietzsche pr< ä >judiziert.
    Und ähnlich Marx: der nicht umkehrende Kapitalismus wird mit Zins
    und Zinseszins, als welche Funktion der Schuld (siehe die dämonische
    Zweideutigkeit dieses Begriffs) sind, Sozialismus.

Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion [Fragment], in: Gesammelte
Schriften, Hrsg.: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde,
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1. Auflage, 1991, Bd. VI, S. 100 – 102.
*[PDF]*
<http://sites.google.com/site/espacecontreciment/home/doc/Benjamin-KapitalismusalsReligion.pdf?attredirects=0&d=1>

*Michael Löwy: Capitalisme comme religion : Walter benjamin et Max Weber
(2006)*
<http://sites.google.com/site/espacecontreciment/home/doc/L%C3%B6wy-Capitalismecommereligion%282006%29.pdf?attredirects=0&d=1>

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