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<br>
<ul class="art-meta">
<li>13 Nov 2020</li>
<li>Frankfurter Allgemeine Zeitung</li>
<li>GÜNTHER NONNENMACHER</li>
</ul>
<h1>Zusammenschluss der Ressentiments </h1>
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<h2>Islamophobie als Generalvorwurf: Pascal Bruckner liest der
französischen Linken die Leviten</h2>
<p> Das Buch von Pascal Bruckner, einem renommierten
französischen Intellektuellen, hat durch die islamistischen
Terroranschläge der vergangenen Wochen eine bestürzende
Aktualität gewonnen. Es ist in Frankreich zwar schon 2017
erschienen, die überarbeiteten Aufsätze und Zeitungsartikel,
die der Autor darin versammelt hat, reichen zum Teil sogar ein
Jahrzehnt zurück. Aber die terroristischen Attentate in
ConflansSainte-Honorine bei Paris, in Nizza und anderswo haben
die Politik wachgerüttelt und die Dringlichkeit befördert,
entschiedener gegen islamistische Gefährder vorzugehen – was
Bruckner schon geraume Zeit fordert. </p>
<p> Eine seiner Thesen ist, dass trotz starker Worte wechselnder
Regierungen die Wirklichkeit – die Ausbreitung des
Dschihadismus unter französischen Muslimen, vor allem in den
heruntergekommenen Banlieues der Metropolen, aber auch durch
illegale Einwanderung – immer wieder verkannt wurde. Es habe
auch nicht geholfen, dass Wissenschaftler und hohe Beamte
vielfach auf alarmierende Entwicklungen aufmerksam machten. </p>
<p> Die Unterschätzung der Gefahr liegt, wie Bruckner glaubt,
unter anderem an einer radikalen Linken, die von den
Trotzkisten bis zur im Parlament vertretenen Partei „La France
insoumise“reicht. Diese Linken glaubten, in den
„ausgegrenzten, rassistisch diskriminierten Muslimen ein neues
‚revolutionäres Subjekt‘“gefunden zu haben. Der Autor macht
dabei vor allem den ehemaligen Chefredakteur von „Le Monde“und
heutigen Chef des Internetportals „Mediapart“, Edwy Plenel,
namhaft. </p>
<p> Hinzu kommen medial sehr präsente Philosophen wie Michel
Onfray oder Alain Badiou, die stereotyp auf die soziale
Situation der Täter hinweisen und dem religiösen Hintergrund
der Attentate kaum Beachtung schenken. Dass auch die deutsche
Linke in dieser Sache Probleme hat, haben kürzlich zwei ihrer
führenden Protagonisten bestätigt: Dietmar Bartsch sprach von
mangelnder Eindeutigkeit in den Reaktionen, Kevin Kühnert von
einem „unangenehm auffälligen Schweigen“angesichts
islamistischer Morde. Einer der Gründe dafür ist die
Befürchtung, Beifall von der falschen Seite, etwa von der AfD,
zu bekommen; weniger plausibel ist, dass es sich, wie Bruckner
für Frankreich konstatiert, um ideologische Verblendung
handelt. </p>
<p> Dass in Frankreich diese Verblendung ausgerechnet bei der
radikalen Linken grassiert, wo sich sonst lautstarke
Verteidiger der „laizistischen Republik“versammeln, erstaunt
in der Tat. Nach dem Massaker in der Redaktion des
Satire-Blattes „Charlie Hebdo“gab es dort nach den ersten
Verurteilungen der Bluttat auch verständnisvolle Worte für
Muslime, die sich von Mohammed-Karikaturen oder blasphemischen
Einlassungen über den Propheten in ihrem Glauben beleidigt
fühlten – ein Verrat am historischen Erbe einer Linken, die
sich einst durch respektlos-radikale Kritik an der Religion
definiert hatte. </p>
<p> Kritik wird schnell als Rassismus angeprangert </p>
<p> Bruckner versucht zu ergründen, warum das so ist. Sein
Ausgangspunkt ist die Entstehung des Wortes „Islamophobie“und
dessen Gleichsetzung mit „Rassismus“. Er untersucht in
mehreren Anläufen, wie diese Umdeutung zustande gekommen ist.
Da geht es nicht nur um die soziale Lage von Muslimen in
Frankreich, von denen immerhin einige in höchste Positionen in
Wirtschaft, Gesellschaft und Staat aufgestiegen sind. Vielmehr
wird auf der Linken etwa Israel als Inbegriff des
Neokolonialismus in Palästina und Dépendance des
„amerikanischen Imperialismus“angesehen. Das Elend der
Palästinenser lässt dann die Umkehrung zu, dass die Juden vom
Opfer- zum Tätervolk, dass die Muslime in Israel und Palästina
zu Opfern geworden seien. Ohne die politischen Umstände zu
berücksichtigen – neben der Härte der israelischen
Besatzungspolitik gibt es auch ein eklatantes Versagen der
korrupten palästinensischen Führungen –, wird dann gefolgert,
dass unter dem Etikett der „Islamophobie“faktisch ein neuer
Rassismus entstanden sei. </p>
<p> Damit gilt wiederum jede Kritik am real existierenden Islam,
nicht nur an religiösen Inhalten, sondern auch an seinen
sozialen Praktiken (Rolle der Frau, Regeln der Scharia und so
fort), als „islamophob“und rassistisch. Unter der Hand wird so
die gerade auf der Linken in Europa verbreitete
Religionskritik zum Rassismus umfunktioniert – jedenfalls was
den Islam angeht, jedoch nicht, wenn es um das Christentum
geht. So wird kein Wort darüber verloren, dass es in vielen
arabischen Ländern die Christen sind, die unterdrückt,
verfolgt, vertrieben oder ermordet werden (etwa die Kopten in
Ägypten); jedenfalls sind sie öfter Opfer eines vermeintlichen
„Rassismus“als die in Europa lebenden Muslime. </p>
</div>
<div class="art-layout-b-2x" id="testArtCol_b">
<p> Bruckner erklärt sich das mit einer steilen historischen
These: „Wenn die Linke totalitäre Theokratien so umwirbt, wie
sie es auch mit Einparteiendiktaturen gemacht hat, dann tut
sie dies auch aus Solidarität mit den Verlierern. Sie rächt
sich für ihre Niederlagen und Rückschläge und verbündet sich
mit der einzigen Macht, die die westliche Welt in Bedrängnis
bringen kann, dem islamischen Fundamentalismus. Es ist ein
Zusammenschluss der Ressentiments im Milieu der großen
Verlierer.“Man mag an dieser schlichten „Umbesetzung“zweifeln,
in der Muslime an die Stelle des Proletariats treten. Auch
andere Passagen erscheinen weniger von der Realität gedeckt
und erinnern mehr an die Dystopie eines vom Islam eroberten
Frankreichs, wie sie Michel Houellebecq in seinem Roman
„Unterwerfung“beschrieben hat. Aber im Großen und Ganzen zeigt
Bruckner, wie wichtig es ist, die dramatische Lage in den
Banlieues vieler Städte nicht nur als Polizeiproblem zu
behandeln. Es geht auch um die Rolle der Religion, denn die
Attentäter sind keine „einsamen Wölfe“, sie bewegen sich in
Netzwerken und finden Unterstützung im In- und Ausland. </p>
<p> Aus Muslimen in Frankreich sollen französische Muslime
werden </p>
<p> In Frankreich gibt es keine Statistiken, welche die Bewohner
des Landes nach religiösen oder ethnischen Kriterien erfassen.
Aber zweifellos beherbergt es die größte muslimische Gemeinde
in Europa. Im abschließenden Teil seines Buches macht Bruckner
Vorschläge, wie es mit gläubigen Muslimen ein gedeihliches
Auskommen in der laizistischen Republik geben kann. Wenn die
ersten Teile seines Buches manchmal alarmistisch klingen und
Thesen der extremen Rechten anklingen (etwa die Idee einer
willentlichen „Überflutung“des Landes mit muslimischen
Einwanderern), wird sein Tonfall in diesem Zusammenhang
geradezu liberal. Es geht ihm um die Freiheit der
Religionsausübung in den von der laizistischen Republik
gezogenen rechtlichen Grenzen. </p>
<p> Dazu gehört die Idee, die Entstehung eines gemäßigten
„Euro-Islams“zu fördern. Das fordern in Frankreich muslimische
Schriftsteller und Intellektuelle, in Deutschland ist es von
Bassam Tibi schon vor Jahrzehnten propagiert worden. Die Idee
stößt trotz einiger Ansätze (zum Beispiel der Ausbildung von
Imamen an staatlichen Hochschulen) in den muslimischen
Moschee-Gemeinden, die in der großen Mehrheit
traditionalistisch orientiert sind, bisher auf wenig
Gegenliebe. Bruckners Vorschläge kreisen um den Gedanken,
„vermittels einer Stiftung, einer Charta, eines Konkordats und
klarer Regeln, aus Muslimen in Frankreich französische Muslime
zu machen, damit die Staatsbürgerschaft und die nationale
Zugehörigkeit den Vorrang vor der religiösen Überzeugung
haben“: Das ist leicht gesagt, aber keine Antwort auf die
Frage, ob es dazu führen kann, den Islam mit der laizistischen
Republik zu versöhnen. Wenn nicht, was dann, zumal, wie der
französische Innenminister gerade sagte, achtzig Prozent der
Attentäter die französische Staatsbürgerschaft besitzen? </p>
<p> Eine andere Voraussetzung wäre für Bruckner, dass der Westen
einen von historischen Schuldkomplexen (Sklaverei,
Kolonialismus, Faschismus, Stalinismus) genährten
„Selbsthass“ablegt; schließlich hat er diese Monster in seiner
Geschichte, teils unter schweren Opfern, selbst besiegt. Das
ist ein weites Feld, gerade wenn es um die Deutschen und ihre
Geschichte geht. </p>
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<p> Es führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass die
Bekämpfung des islamistischen Terrorismus vor allem ein
Anliegen jener moderaten Muslime sein müsste, die mehr oder
weniger gut integriert bei uns leben; viele von ihnen
inzwischen als französische oder deutsche Staatsbürger. Sie
dürfen den Terror nicht nur als „unislamisch“verdammen und von
fehlgeleiteten Einzelnen sprechen, weil das nicht (mehr)
stimmt. Es genügt auch nicht, die eigene Gesetzestreue zu
beschwören. Damit es bei uns nicht so weit kommt wie in
Frankreich, müssten sie aufstehen und sich gegen jene
Glaubensgenossen erheben, die unser aller Freiheit und Leben
bedrohen. Dazu gehört es auch, eng mit den staatlichen
Sicherheitsbehörden zusammenzuarbeiten. </p>
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<div class="art-storyorder"><a title="Ein Philosoph spielt Roulette"
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</span></a><a title="Wie unmöglich ist Donald Trump?"
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