[D66] 'Parlamentarismus ist bankrott'

René Oudeweg roudeweg at gmail.com
Fri Nov 25 10:44:18 CET 2022


"Zeitgenössische Sprechakte im Parlament sind bankrott"

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Sprachgerechtigkeit

'Taalrechtvaardigheid'


Im rechtlichen Bereich (an den ich nicht glaube) beinhaltet das Urteilen
den Buchstaben des Gesetzes und den Geist des Gesetzes. Nun wird sich
der Buchstabe des Gesetzes nicht so leicht delegitimieren. Laut dem
Poststrukturalisten Derrida dekonstruiert sich das Recht selbst, aber
Gerechtigkeit kann nicht dekonstruiert werden. Der Geist des Gesetzes
kann durchaus von einer Delegitimierung, einer Selbstdelegitimierung
sprechen. Gesetze werden in einer Amtssprache mit Worten verfasst. Worte
legitimieren sich nicht, sie werfen nur Verdacht und Schuld auf sich.
Worte sind Schatten und Wirkung und haben den Anspruch, etwas
darzustellen. Ein Gesetz wird mit dem Namen einer Person unterzeichnet.
Ein Name kann niemals legitim getragen werden, es gibt keinen
ausreichenden Grund, ihm gerecht zu werden. Namen werden nur von ihrem
Schatten und ihrer Wirkung begleitet. Die Verfassung ist kein Gesetz,
weil sie mit dem Namen eines Regenten unterzeichnet ist, der sich für
einen Souverän hält. Mit der Unterzeichnung wird die Verfassung sofort
zum Abgrund, egal in welcher Sprache sie verfasst wurde.

“Nothing, indeed, is more subject to depreciation and suspicion in our
disenchanted world than the word." --George W. Morgan’s 1968 judgment.

In dieser desillusionierten techno-industriellen Horrorzivilisation
delegitimiert sich das Parlament selbst dafür, eine Sprache zu
verwenden, die sein Milieu widerspiegelt. Und das ist heutzutage nicht
gut. Die Parlamentarier bemerken kaum, wenn überhaupt, die schreckliche
Sprache, die sie ausspuckten. Der Dichter Wim Brands sah keinen Ausweg
und beging Selbstmord. Dieses Schicksal wurde vielen Schriftstellern und
Dichtern zuteil. Schließlich gibt es keinen Ausweg aus der Sprache und
dem sprachlichen Umfeld. Wenn Sie aufhören zu kommunizieren, sind Sie tot.

Das alles hat mit dem Versagen des symbolischen Denkens, des nationalen
Milieus und der allgegenwärtigen Sicherheitsneurose des Leviathan und
seiner Komplizen zu tun.

Geld hat mit Vertrauen zu tun und damit mit Macht. Dasselbe gilt für
Sprache. Wir können der Sprache der Parlamentarier nicht mehr vertrauen.
Zeitgenössische Sprechakte im Parlament sind bankrott. Die Bürger halten
Mehrheitsentscheidungen für rechtsgültig, vergessen aber bequemerweise,
dass Entscheidungen „in einer Sprache“ ausgesprochen werden. Die Sprache
kann ihre vermeintliche Legitimität verlieren, wenn die Umwelt und das
Oikos, in dem die Sprache vorkommt, stark degradiert und verschmutzt
werden. Damit verlieren auch Mehrheitsentscheidungen ihre Gültigkeit.
Mehrheitsentscheidungen delegitimieren sich, weil es sich um Amts-,
Geschäfts- und Instrumentalsprache handelt, die einen sicheren und
legalen Eindruck machen soll, de facto aber reiner Müll ist, der nur für
juristische Haarspalterei geeignet ist. Daher sollte „das Gesetz“ mit
Argwohn betrachtet werden. Das ist die Dialektik von Verdacht und Vertrauen.

Das Problem ist, dass sich Richter und Staatsanwälte im selben
sprachlichen Umfeld befinden und sich daher kein unabhängiges Urteil
mehr bilden können, das „mit Recht“ als Gerechtigkeit bezeichnet werden
kann. Die Justiz ist bankrott, wenn es keine „sprachliche Gerechtigkeit“
mehr gibt und sich aus der Sprache keine Heilshoffnung ausdrücken lässt.
Lebende Sprachen können verstanden und missverstanden, erkannt oder
unterdrückt werden. Es gibt eine Sprachpolizei, aber keine Sprachjustiz.
Sprachen entstehen und vergehen, Grenzen verschieben sich und verblassen.

Sprachgerechtigkeit und Sprachjustiz haben daher weniger mit
interkulturellen Sprachgemeinschaften und Esperantismus zu tun als
vielmehr mit unserer Lebenswelt. Sprache erzeugt Abfallprodukte. Das
verdanken wir vor allem der instrumentellen Vernunft in Politik,
Wissenschaft und Technik, kurz gesagt, die Industriegemeinschaft.

Der Parlamentarismus ist bankrott, weil er die gleiche technokratische
Managementsprache verwendet wie die der Industriellen.

Eine unabhängige Gerichtsbarkeit hat es nie gegeben, weil Sprache nicht
neutral ist und weil die Menschen kein Verständnis von
Sprachgerechtigkeit haben.

Unsere Umwelt wurde in einem solchen Ausmaß geschädigt, dass
Parlamentarier kein Recht mehr haben, in einer hochgradig verschmutzten
Sprache zu sprechen. Die vox populi ist auch bankrott, weil diese
Papageien nur der Politik folgen.

Wer die Sprache der nichtmenschlichen Naturwelt und die Sprache der
Tiere nicht anerkennt, hat kein Recht zu sprechen.


René Oudeweg


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https://nl.wikipedia.org/wiki/Taalrechtvaardigheid



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