[D66] FAZ: Von kleinen Szenen zu großen Themen

R.O. jugg at ziggo.nl
Tue Nov 24 09:26:19 CET 2020


  * 24 Nov 2020
  * Frankfurter Allgemeine Zeitung
  * DIETER THOMÄ


  Von kleinen Szenen zu großen Themen


    Manfred Geier verknüpft Leben und Werk von Philosophen in
    sexual-biographischen Untersuchungen

Den Philosophen wird es zwar nicht mit der Muttermilch, aber – wenn man 
so sagen darf – mit dem Studentenfutter beigebracht, dass sie sich der 
Liebe verschreiben sollen. Schließlich steht ihre Berufsbezeichnung für 
die „Liebe zur Weisheit“. Und doch wurde die Liebe in der Geschichte der 
Philosophie nach dem furiosen Auftakt in Platons „Symposium“eher mit 
spitzen Fingern angefasst. Die Weisheit verwandelte sich in Vernunft, 
und sie ging auf Distanz zum Gefühl.

In seinem neuen Buch unternimmt Manfred Geier nun eine Reise „von 
Sokrates bis Foucault“, auf der er das spannungsvolle Zusammenspiel 
zwischen Lieben und Denken großer Philosophen erkundet. Als Zugang wählt 
er die „philosophische Hintertreppe“, also einen Weg, der – wie es 
Wilhelm Weischedel in seinem gleichnamigen, überaus erfolgreichen Buch 
1966 vorgemacht hat – vom Alltag der Meister zu ihren Texten vordringen 
soll. Dass sich aus dieser Verbindung Funken der Einsicht schlagen 
lassen, hat Geier in früheren Büchern – zuvörderst in „Kants Welt“(2003) 
– gezeigt und damit viel Zuspruch gefunden. Er versteht es wie kaum ein 
anderer, Leben und Werk zusammenzubringen, ohne sich beim Blick durchs 
Schlüsselloch zu erhitzen oder in der Wüste der Abstraktion zu 
verdursten. Wenn sie Aufschlüsse für „Denken und Weltsicht der 
Akteure“liefern, sind Verletzungen der Privatsphäre nach Geier nicht 
verboten, sondern durchaus erwünscht, und zu solchen kommt es auch – 
wenn die Quellen dies denn hergeben – in diesen „sexual-biographischen 
Untersuchungen“zu Sokrates, Augustinus, Rousseau, Kant, dem Marquis de 
Sade, den Brüdern Humboldt, Kierkegaard, Wittgenstein, Heidegger und 
Foucault.

Diese Namensliste ist leider mit unterschiedlichen Problemen befrachtet. 
Emsige Leser Manfred Geiers werden bemerken, dass er der Hälfte der 
gerade genannten Hauptfiguren bereits Bücher gewidmet hat, in denen 
deren Leben und Denken schon in Szene gesetzt worden ist. Auf diese 
Leser wirkt einiges, was ausgebreitet wird, ziemlich überraschungsfrei. 
Überhaupt geht Geier bei der Auswahl arg konventionell vor: Sein Kanon 
besteht aus den üblichen Verdächtigen, die schon von vielen Interpreten 
auf die Couch gelegt worden sind. Man trifft Männer, die mit Frauen 
fremdeln (Sokrates, Augustinus, Rousseau, Kant, Kierkegaard), Frauen 
erobern (de Sade, Heidegger) oder Männer lieben (Alexander von Humboldt, 
Wittgenstein, Foucault). Der Einzige von Geiers Liste, der sich in 
diesen Schubladen nicht so leicht unterbringen lässt, ist Wilhelm von 
Humboldt.

Geier lässt die Chance leider ungenutzt, prominente, aber weniger 
abgegriffene Geschichten vom Geschlechterkampf und Geschlechterfrieden 
einzubeziehen – Geschichten, in denen zum Beispiel nicht nur ein Mann, 
sondern ein Paar lebt, liebt und denkt. Erwähnt seien nur der Marquis de 
Condorcet und seine stark unterschätzte Frau Sophie de Grouchy, John 
Stuart Mill und Harriet Taylor, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. 
Und warum hat Geier den Spieß nicht umgedreht und Hannah Arendt ein 
Kapitel gewidmet, statt sich über Heideggers zahllose, sattsam bekannte 
Liebschaften – unter anderem eben mit Arendt – zu verbreiten?

Doch hat das Buch auch seine Stärken. Manfred Geier verfügt über die 
Gabe, anhand von kleinen Szenen große Themen zu erschließen. 
Stellvertretend für viele Beispiele, die sich in diesem Buch finden, sei 
ein einziges geschildert. Als Halbwaise, der von seinem Vater im Stich 
gelassen worden war, landete der fünfzehnjährige Jean-Jacques Rousseau 
im Frühjahr 1728 nach einem langen Fußmarsch in Turin, genauer gesagt: 
in einem katholischen Hospiz. Dort trug sich eine Geschichte zu, der – 
bei freilich spärlicher Konkurrenz – der Sieg im Wettbewerb um die 
drastischste Masturbationsszene der Ideengeschichte sicher sein dürfte. 
Ein „Strolch“machte sich nämlich in jenem Hospiz an den jungen 
Jean-Jacques heran, rieb sich an ihm, wurde von ihm entrüstet 
zurückgestoßen, ließ sich aber nicht davon abhalten, „sich vollends 
abzuarbeiten“, wie Rousseau schreibt, bis „etwas Klebriges und Weißes 
auf den Kamin spritzte und zur Erde fiel, was mir Übelkeit erregte“. 
Verwalter und Priester im katholischen Hospiz ließen Jean-Jacques 
abblitzen, als er sich über diesen Vorgang beschwerte. Es ergibt guten 
Sinn, den Verbindungslinien nachzugehen, die sich zwischen jener 
Erfahrung und Grundzügen von Rousseaus Denken ziehen lassen. Dazu 
gehören Rousseaus Verstoß gegen Sprechverbote, das gespaltene Verhältnis 
zu Frauen, der scharfe Blick auf die Verkommenheit, das 
selbstzerstörerische Misstrauen gegen andere, das immer wieder in die 
Sehnsucht nach vollkommener Gemeinschaft umschlägt.

Geier erzählt viele berührende, bedrückende Geschichten dieser Art. Der 
schönste Satz aus seinem Buch stammt freilich nicht von ihm, sondern von 
Sigmund Freud. Auf die Frage, ob man sich beim Reden über Liebe und 
Sexualität peinlich zurückhalten solle, antwortete er: „Ich vermeide 
gern Konzessionen an die Schwachmütigkeit.“


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