[D66] Die Totalausbeutung des Menschen

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Fri May 18 11:28:17 CEST 2018


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Die Totalausbeutung des Menschen

By Süddeutsche.de Gmbh, Munich, Germany, www.sueddeutsche.de
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June 20th, 2016

Getrieben vom Hyperkapitalismus: Die Digitalisierung beschleunigt die
kommerzielle Ausbeutung des menschlichen Lebens. Es ist Zeit, Widerstand
zu organisieren.


Essay von Byung-Chul Han

Customer-Lifetime-Value bezeichnet den Wert, den ein Mensch während
seines gesamten Kundenlebens für ein Unternehmen darstellt. Diesem
Begriff liegt die Intention zugrunde, die ganze menschliche Person, ihr
gesamtes Leben in rein kommerzielle Werte umzuwandeln. Der heutige
Hyperkapitalismus löst die menschliche Existenz gänzlich in ein Netz
kommerzieller Beziehungen auf. Es gibt heute keinen Lebensbereich mehr,
der sich der kommerziellen Verwertung entzöge.

Gerade die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft erleichtert,
erweitert und beschleunigt in erheblichem Maße die kommerzielle
Ausbeutung des menschlichen Lebens. Sie unterwirft Lebensbereiche, die
bisher dem kommerziellen Zugriff unzugänglich waren, einer ökonomischen
Ausbeutung. So tut es heute not, neue Lebensbereiche zu errichten, ja
neue Lebensformen zu entwickeln, die sich der kommerziellen
Totalausbeutung des menschlichen Lebens widersetzen.

Der New Yorker Flagship-Store von Apple stellt in jeder Hinsicht den
Tempel des Hyperkapitalismus dar. Er ist ein Kubus aus reinem Glas. Im
Inneren ist dieser leer. Er stellt also nichts anderes als seine eigene
Durchsichtigkeit aus. Im Untergeschoss ist der eigentliche Laden
untergebracht. Transparenz nimmt hier eine materielle Gestalt an.

Der durchsichtige Apple-Shop ist wohl das architektonische Gegenbild der
Kaaba in Mekka mit ihrem schwarzen Umhang. Kaaba heißt wörtlich Kubus.
Dem schwarzen Bauwerk fehlt jede Transparenz. Der Kubus ist ebenfalls
leer und steht für eine theologische Ordnung, die der
hyperkapitalistischen Ordnung entgegengesetzt ist.

Kommunikation, Kommerz und Konsum

Der Apple-Shop und die Kaaba stellen zwei Herrschaftsformen dar. Der
transparente Kubus präsentiert sich zwar als Freiheit und symbolisiert
grenzenlose Kommunikation. Aber diese Transparenz ist selbst eine
Herrschaftsform, die heute die Form eines digitalen Totalitarismus
annimmt. Er kündigt eine neue Herrschaft an: die Herrschaft des
Hyperkapitalismus. Er symbolisiert die heutige Totalkommunikation, die
immer mehr mit der Totalüberwachung und Totalausbeutung zusammenfällt.

Die Kaaba ist verschlossen. Nur Geistliche haben Zugang ins Innere des
Baus. Der transparente Kubus ist hingegen rund um die Uhr geöffnet.
Jeder hat als Kunde Zutritt. Hier liegen zwei entgegengesetzte
Herrschaftsordnungen vor: die Herrschaft der Schließung und die
Herrschaft der Öffnung. Diese ist allerdings effizienter als die
erstgenannte, weil sie sich als Freiheit gibt. Mit dem gläsernen Kubus
feiert der Hyperkapitalismus eine Hyperkommunikation, die alles
durchdringt, durchleuchtet und ins Monetäre umwandelt. Kommunikation,
Kommerz und Konsum - mit dem Apple-Shop im Untergeschoss - fallen hier
in eins.

Die US-amerikanische Firma Acxiom, die personenbezogene Daten erhebt,
wirbt mit dem Slogan: "Wir bieten Ihnen einen 360-Grad-Blick auf Ihre
Kunden." Gesammelt werden Daten über Konsumverhalten, Familienstand,
Beruf, Vorlieben, Hobbys, Wohn- und Einkommensverhältnisse. Ihre
Algorithmen unterscheiden sich nicht wesentlich von denen der NSA.

Warum heute keine Revolution möglich ist

Die Welt als Warenhaus erweist sich als digitales Panoptikum mit einer
Totalüberwachung. Totalausbeutung und Totalüberwachung sind zwei Seiten
einer Medaille. Acxiom unterteilt Menschen in 70 Kategorien, und zwar
rein aus ökonomischem Blickwinkel. Die Gruppe von Personen, die einen
sehr geringen Kundenwert aufweisen, heißt "waste", also Abfall oder Müll.

Big Data macht Prognosen des menschlichen Verhaltens möglich. Die
Zukunft wird dadurch berechenbar und manipulierbar. Big Data erweist
sich als ein sehr effizientes psychopolitisches Instrument, das es
erlaubt, Menschen wie Marionetten steuerbar zu machen. Big Data erzeugt
ein Herrschaftswissen. Dieses macht es möglich, in die menschliche
Psyche einzugreifen und sie zu beeinflussen, ohne dass die Betroffenen
es merken. Die digitale Psychopolitik degradiert die menschliche Person
zu einem Objekt, das quantifizierbar und steuerbar ist. Somit kündigt
Big Data das Ende des freien Willens an.

Souverän ist, so der Staatsrechtler Carl Schmitt, wer über den
Ausnahmezustand verfügt. Einige Jahre später revidierte er diesen
berühmten Satz: "Nach dem Zweiten Weltkrieg, angesichts meines Todes,
sage ich jetzt: Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt."
Carl Schmitt soll zeitlebens Angst vor Radio und Fernsehen gehabt haben
- wegen der manipulativen Wirkung. Heute, im digitalen Regime, müsste
der Satz der Souveränität erneut revidiert werden: Souverän ist, wer
über die Daten im Netz verfügt.

Die digitale Vernetzung macht die Totalbewertung und Totalausleuchtung
einer Person möglich. Angesichts der Gefahr, die das personenbezogene
Datensammeln in sich birgt, ist heute die Politik gefordert, diese
Praxis im erheblichen Maße einzuschränken. Auch von Schufa und anderen
Scoring-Firmen geht eine diskriminierende Wirkung aus. Die ökonomische
Bewertung einer Person widerspricht der Idee der Menschenwürde. Keine
Person sollte zu einem Objekt algorithmischer Bewertung degradiert werden.

Dass etwa die Schufa, die in Deutschland eine heilige
Selbstverständlichkeit geworden ist, vor einiger Zeit überhaupt auf den
Gedanken kommen konnte, soziale Netzwerke nach nützlichen Informationen
zu durchforsten, verrät die tiefe Intention des Unternehmens. Der
Werbeslogan der Schufa: "Wir schaffen Vertrauen" ist ein reiner Zynismus.

Neue, radikale Denkansätze

Unternehmen wie die Schufa schaffen das Vertrauen gerade komplett ab und
ersetzen es durch Kontrolle. Vertrauen heißt, trotz Nichtwissens über
einen anderen eine positive Beziehung zu ihm zu unterhalten. Es macht
Handlungen möglich trotz fehlenden Wissens. Weiß ich im Vorfeld alles
über die Person, so erübrigt sich das Vertrauen. Schufa zum Beispiel
bearbeitet täglich mehr als 200 000 Anfragen. Das ist nur in einer
Kontrollgesellschaft möglich. Eine Vertrauensgesellschaft benötigt
solche Unternehmen wie die Schufa nicht.

Das Vertrauen impliziert die Möglichkeit, dass ihm nicht entsprochen
wird, dass es verraten wird. Aber diese Möglichkeit des Verrats ist
konstitutiv für das Vertrauen selbst. Auch die Freiheit impliziert ein
gewisses Risiko. Eine Gesellschaft, die im Namen der Sicherheit alles
der Kontrolle und Überwachung unterwirft, verfällt in Totalitarismus.

Angesichts des drohenden digitalen Totalitarismus hat
Europaparlamentspräsident Martin Schulz kürzlich auf die dringende
Notwendigkeit hingewiesen, eine Charta der Grundrechte für das digitale
Zeitalter zu formulieren. Auch der ehemalige Innenminister Gerhart Baum
fordert eine umfassende Datenabrüstung.

Notwendig sind heute neue, radikale Denkansätze, um den
Datentotalitarismus abzuwenden. Es sollte auch über eine konkrete
technische Möglichkeit nachgedacht werden, die personenbezogenen Daten
in einem bestimmten Umfang mit einer Fälligkeit zu versehen, so dass sie
nach einer gewissen Zeit automatisch verschwinden. Diese Praxis würde zu
einer massiven Datenabrüstung führen, die heute notwendig ist angesichts
des Datenwahns.

"Tempel des Hyperkapitalismus": Apple Flagship-Store in New York
(Foto: AFP)

Die Charta der digitalen Grundrechte wird alleine den
Datentotalitarismus nicht verhindern können. Es sollte auch ein
Bewusstseins- und Mentalitätswandel herbeigeführt werden. Wir sind heute
nicht einfach Insassen oder Opfer in einem fremdgesteuerten digitalen
Panoptikum.

Ursprünglich war das Panoptikum ein von Jeremy Bentham entworfener
gefängnisartiger Bau. Die Gefangenen im Außenring werden darin von einem
zentralen Überwachungsturm bewacht. Im digitalen Panoptikum sind wir
nicht einfach nur gefangen. Wir sind vielmehr selbst Täter. Wir bauen
aktiv mit am digitalen Panoptikum. Wir unterhalten es sogar, indem wir
uns entblößen, indem wir uns wie die Millionen Anhänger der
Quantified-self-Bewegung am Körper verkabeln und unsere körperbezogenen
Daten freiwillig ins Netz stellen. Die neue Herrschaft erlegt uns kein
Schweigen auf. Vielmehr fordert sie uns permanent dazu auf, mitzuteilen,
teilzunehmen, unsere Meinungen, Bedürfnisse, Wünsche und Vorlieben zu
kommunizieren, ja unser Leben zu erzählen.

In den achtziger Jahren sind in Deutschland alle auf die Barrikaden
gegangen gegen die Volkszählung. In einem Bürgeramt ist eine Bombe
explodiert. Sogar die Schüler gingen auf die Straße. Es fanden
Massendemonstrationen statt.

Aus heutiger Sicht ist diese Reaktion unverständlich, denn die
Informationen, die abgefragt wurden, waren harmlos - wie beispielsweise
Beruf, Schulabschluss, Familienstand, Entfernung zum Arbeitsplatz. Heute
geben wir hemmungslos selbst intime Daten preis, und zwar freiwillig.
Wir spüren sogar ein Bedürfnis, uns zu entblößen. Wir haben nun nichts
dagegen, dass hundert oder tausend Datensätze über uns gesammelt,
gespeichert, weitergegeben und verkauft werden. Niemand geht dagegen auf
die Barrikaden. Es wird keinen massiven Protest gegen Google oder
Facebook geben.

Eine ernst zu nehmende Krise der Freiheit

Zur Zeit der Volkszählung glaubte man, dem Staat als Herrschaftsinstanz
gegenüberzustehen, der die Bürger gegen deren Willen aushorchen will.
Diese Zeit ist längst vorbei. Heute entblößen wir uns freiwillig ohne
jeden Zwang, ohne jede Verordnung. Wir stellen freiwillig alle möglichen
Daten und Informationen über uns ins Netz, ohne zu wissen, wer was wann
und bei welcher Gelegenheit über uns weiß.

Diese Unkontrollierbarkeit stellt eine ernst zu nehmende Krise der
Freiheit dar. Angesichts der Daten, mit denen man nur so um sich wirft,
wird außerdem der Begriff des Datenschutzes selbst obsolet. Heute sind
wir nicht einfach Opfer einer staatlichen Überwachung, sondern tätige
Elemente des Systems. Freiwillig geben wir private Schutzräume auf und
setzen uns digitalen Netzen aus, die uns durchdringen und durchleuchten.

Die digitale Kommunikation als neue Produktionsform schafft rigoros
Schutzräume ab und verwandelt alles in Informationen und Daten. Jede
schützende Distanz geht dadurch verloren. In der digitalen
Hyperkommunikation vermischt sich alles mit allem. Immer durchlässiger
werden auch die Grenzen zwischen innen und außen. Menschliche Personen
werden zu Schnittstellen in einer total vernetzten Welt. Diese digitale
Schutzlosigkeit wird vom Hyperkapitalismus gefördert und ausgebeutet.

Wir müssten uns wieder ernsthaft der Frage stellen, was für ein Leben
wir leben wollen. Wollen wir uns weiterhin der Totalüberwachung und
Totalausbeutung der menschlichen Person ausliefern und dadurch unsere
Freiheit, unsere Würde preisgeben? Es ist wieder an der Zeit, gemeinsam
einen Widerstand gegen den drohenden digitalen Totalitarismus zu
organisieren. Nichts an Aktualität eingebüßt hat Georg Büchners Wort:
"Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts,
nichts wir selbst!"


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