[D66] Das Spiel der Differenzen

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Thu Jul 26 13:16:58 CEST 2018


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Das Spiel der Differenzen. Wie Jacques Derrida 1968 einen Begriff
prägte, der rechts Karriere machen sollte

    By René Scheu, www.nzz.ch
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    July 17th, 2018

Jacques Derrida, der grosse Dekonstruktivist, im Jahr seines Todes, 2004.
Photo by: Bild: Matthias Ernert / Keystone

Es gibt Phasen der Intensität, in denen sich das Denken verdichtet und
plötzlich eine unerhörte Wirkung entfaltet. Genau dies war es wohl, was
auch im Paris des Jahres 1968 geschah. Der neue Leitbegriff, der die
Philosophie und nachgelagerte Disziplinen in den kommenden Jahren und
Jahrzehnten prägen sollte, hiess fortan: Differenz.

Jacques Derrida, der aufgehende Stern am Himmel der französischen
Intellektuellen, hielt am 27. Januar 1968 an der Société française de
philosophie einen Vortrag mit dem Titel «La différance». Der Text
erschien erst nach den Unruhen des Mai in schriftlicher Form und
umfasste kaum zwanzig Seiten. Doch dürfte allen Zuhörern schon damals
klar gewesen sein: Es handelte sich hier um ein Zeugnis des Umsturzes.
Derrida fasst darin den einen neuen revolutionären Gedanken zusammen,
den er in seinen Büchern «Die Stimme und das Phänomen», «Die Schrift und
die Differenz» und «Grammatologie», allesamt im Jahre 1967 publiziert,
in unterschiedlichen Kontexten durchexerziert hat: Nichts ist mit sich
selbst identisch. Alles ist im Fluss. Der Sinn, das Sein, das Subjekt.

Natürlich liess es sich Derrida nicht nehmen, bei den Studentenprotesten
mitzumachen. Dessen ungeachtet bewahrte er sich von Anfang an – und bis
zuletzt – eine Reserviertheit gegenüber der Entladung unkontrollierter
Energien: Der Kult der Authentizität war ihm, dem Kritiker alles
Natürlichen und Gegebenen, ebenso suspekt wie die Rhetorik der grossen
Befreiung. Dennoch spiegelte der Aufsatz die Stimmung von damals in
geradezu idealtypischer Weise: Der Gestus des Umsturzes wanderte von der
Strasse in die Universitäten. Das Ziel waren nicht mehr Vertreter des
Staates, sondern Protagonisten der abendländischen Denktradition.
Alles könnte auch anders sein

Wer den Text fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen liest, erkennt
zweierlei: eine Verspieltheit in Wortgebrauch und Argumentation (man
denke an das ganze Theater um die Schreibweise von «différance» mit a
statt mit e) und eine neue rhetorische Radikalität im buchstäblichen
Sinne. Zurück zu den Wurzeln, Ursprüngen und Herkünften heisst bei
Derrida stets: zurück zu deren Abwesenheit. Wer auch immer die
Aufklärung oder den Westen kritisieren wollte, fand bei ihm das perfekte
argumentative Rüstzeug. Wir leben im Ethnozentrismus, Phonozentrismus,
Logozentrismus, Phallogozentrismus. Alles Natürliche ist konstruiert,
das Gegebene ist immer irgendwie gemacht, das Drinnen ist das Draussen,
das Oben ist das Unten, das Zentrum ist die Peripherie. Die binären
Gegensätze, die unser Leben prägen, werden in unendlichen
Lektürebewegungen dekonstruiert. Denn genau dies meint «différance» als
nicht ursächliche Ursache alles Seienden: Alles könnte auch anders sein.

Derrida selbst nennt seine «différance» «das Irreduzibelste unserer
‹Epoche›» – sie allein erlaubt uns zu verstehen, wer, was und wo wir
heute sind. Er sollte recht behalten, wenn auch anders, als er wohl
dachte. Die einen spielten das von ihm erfundene Spiel der «différance»
(mit a) lustvoll mit, in und ausserhalb der Akademie. Es entstand an den
geisteswissenschaftlichen Fakultäten auf der ganzen Welt die Schule der
Dekonstruktion, Apple warb in den 1990er Jahren mit dem Spruch «Be
different». Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hatte sich die Rhetorik
jedoch totgelaufen, und Norbert Bolz hat dafür den perfekten Titel
gefunden: Aus den Anhängern der Differenz wurden «Konformisten des
Andersseins». Andere Linke wiederum begannen den Differenzkult zu
kritisieren, weil sie erkannten: Wenn überall die Differenz zelebriert
wird, dann schlägt sie irgendwann in Indifferenz um. Und wo die
Indifferenz regiert, da gewinnt der Mächtige.
Steilpass für Nationalisten

Schon früh aber entstand eine dritte Option im Umgang mit dem Kult der
Differenz: jene der Aneignung. Der Philosoph Alain de Benoist, Begründer
der Neuen Rechten in Frankreich, übernahm den Wahlspruch «Vive la
différence!» (diesmal mit e) der Derrida-Jünger bereits in den 1970er
Jahren mit grosser Freude. Er nahm eine Bedeutungsverschiebung vor und
machte aus den vielen Binnendifferenzen die eine grosse Grunddifferenz:
wir Franzosen und die anderen, die nach Frankreich wollen. Und auch
Jean-Marie Le Pen, Gründer des Front national, liess sich nicht zweimal
bitten. 1982 sagte er: «Wir haben nicht nur das Recht, sondern die
Pflicht, unsere nationale Persönlichkeit und auch unser Recht auf
Differenz zu verteidigen.»

Das Recht auf kulturelle Differenz: So hat sich das Derrida zweifellos
weder gewünscht noch vorgestellt. Wer die Identität schwächt, stärkt die
Identitären – auch das ist «différance». Aus Befreiung wird
Einkerkerung, aus der Verflüssigung Verfestigung. Derrida, der
Dekonstruktivist, als Wegbereiter der Ethnopluralisten? So sieht es aus.
Das Erbe wiegt schwer.
Das linke Dogma bäumte sich im Mai 1968 nochmals auf – bevor ein neues
Zeitalter begann. Zwar haben die Protestierenden weder alte Tabus
niedergerungen noch neue Ideen gebracht. Doch ihre Konzepte prägen uns
bis heute: Die neue moralische Strenge spricht Bände über die paradoxe
Wirkung der Achtundsechziger.


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