[D66] Wahlen in den Niederlanden: Alle Parteien unterstützen Sparmaßnahmen
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Wed Sep 12 08:00:33 CEST 2012
Wahlen in den Niederlanden: Alle Parteien unterstützen Sparmaßnahmen
Von Dietmar Henning
11. September 2012
Am Mittwoch sind rund 12,5 Millionen Stimmberechtigte in den
Niederlanden zur Wahl des Parlaments aufgerufen. Eine wirkliche
Alternative haben Arbeiter nicht. Unter den Bedingungen einer sich rasch
verschärfenden Wirtschaftskrise befürworten alle Parteien in der einen
oder anderen Form die von der Europäischen Union und den Finanzmärkten
diktierten Sparvorgaben.
Die bisherige Regierung unter Mark Rutte von der rechtsliberalen VVD
hatte gemeinsam mit dem christdemokratischen Koalitionspartner CDA
Haushaltskürzungen von 14 Milliarden Euro angestrebt. Doch der Plan, das
Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre heraufzusetzen, führte im März
zum Bruch der Koalition, weil die islamfeindliche Partei PVV von Geert
Wilders die weitere Tolerierung von Ruttes Minderheitsregierung
versagte. So kam es zu den jetzigen Neuwahlen, dem vierten Wahlgang in
den letzten zehn Jahren.
Die Regierung Rutte beschloss dann allerdings trotz der politischen
Krise ein 12,4 Milliarden Euro schweres Sparpaket. Die Grün-Linken (GL),
die konservative Christen-Union (CU) und die linksliberale D66 verhalfen
ihr zur nötigen Mehrheit. Das Sparpaket beinhaltete Kürzungen bei der
sozialen Absicherung und der Gesundheitsversorgung, den Abbau von
Personal und das Einfrieren der Löhne im öffentlichen Dienst sowie eine
Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Die Verabschiedung des Sparpakets durch die sogenannte Kunduz-Koalition
(dieselben fünf Parteien hatten im letzten Jahr einen niederländischen
Polizeieinsatz in Afghanistan ermöglicht) unterstreicht, dass alle
Parteien Austeritätsmaßnahmen unterstützen und sich höchstens über deren
Form streiten. Das gilt auch für die Sozialistische Partei (SP), die
zeitweise in den Umfragen vorne lag. (Siehe: „Sozialistische Partei
führt in Umfragen“)
Die aus einer maoistischen Gruppe hervorgegangene SP vertritt in den
meisten Fragen derart rechte Standpunkte, dass sie ihren Vorsprung in
den Umfragen in kurzer Zeit wieder verlor. Laut den jüngsten Erhebungen
kommen Ruttes VVD und die sozialdemokratische PvdA auf jeweils 35 Sitze
in der 150-köpfigen Zweiten Kammer. Die SP, die vor zwei Wochen noch bei
36 Mandaten lag, kommt nur noch auf 21, sechs mehr als sie derzeit hat.
Die Sozialdemokraten haben in einem nach US-Vorbild geführten Wahlkampf
ganz auf ihren Spitzenkandidaten Diederik Samsom gesetzt. Der frühere
Greenpeace-Aktivist zog begleitet von seiner Familie, darunter seiner
behinderten Tochter, mit viel Medienaufwand durchs Land und gab sich
bürgernah.
Der Wahlausgang bleibt aber bis zuletzt offen, da noch 43 Prozent der
Befragten unentschieden sind. Viele Wähler hätten die zahllosen und
niemals eingelösten Versprechen der Parteien satt, erklärte der
Politologe Claes de Vreese von der Universität Amsterdam der
Nachrichtenagentur AFP.
Im Zentrum des Wahlkampfs stehen die Auswirkungen der Eurokrise auf die
Niederlande. Im letzten Jahr lag das Haushaltsdefizit der fünftgrößten
Wirtschaft der Eurozone mit 4,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
deutlich über der EU-Höchstgrenze von 3 Prozent.
Die rechtsliberale VVD und der christdemokratische CDA treten offen für
einen rigorosen Sparkurs ein. So will die VVD allein in der
Gesundheitsversorgung zusätzliche 7 Milliarden Euro einsparen, obwohl
diese schon in den 1990er Jahren weitgehend privatisiert worden ist.
Die Sozialdemokraten und die Sozialistische Partei schüren dagegen die
Illusion, die EU werde in Verhandlungen einen Aufschub der Sparvorgaben
akzeptieren. „Wir denken, es ist unklug, drastische Maßnahmen zu
ergreifen, nur um das Defizitziel schon 2013 zu erreichen“, sagte Ronald
Plasterk, der finanzpolitische Sprecher der PvdA. Er sei sicher, dass
Brüssel davon überzeugt werden könne.
Emil Roemer, der Spitzenkandidat der SP, will die Sparziele sogar bis
2015 aufschieben, lehnt sie aber auch nicht grundsätzlich ab.
Tatsächlich haben die internationalen Finanzinstituten und Banken die
Niederlande längst ins Visier genommen und werden einen Aufschub der
Haushaltskürzungen ebenso wenig dulden wie in Griechenland, Spanien oder
Frankreich. Die internationale Wirtschaftskrise hat das Land voll
erfasst. Die Ratingagentur Moody’s hat mit einer Herabstufung seiner
Kreditwürdigkeit gedroht.
Der niederländische ABP-Konzern, einer der größten Pensions-Fonds der
Welt, hat wegen der Wirtschaftskrise und den niedrigen Zinsen mit einer
Kürzung der Renten gedroht. Das berichtete die Zeitung Volkskrant letzte
Woche. ABP verwaltet die Gelder von mindestens 3 Millionen Arbeitern und
Rentnern im öffentlichen Dienst der Niederlande. Wenn die
Berechnungsgrundlage der Rentenbeiträge nicht geändert werde, sei ABP
gezwungen, seine Rentenauszahlungen um 10 bis 15 Prozent zu senken.
Laut Volkskrant könnten die Rentenbeiträge bei 17 großen Fonds um fast
30 Prozent steigen.
Die niederländischen Immobilienpreise sind seit 2008 um 15 Prozent
gefallen. Das Land hat die höchste Hypotheken-Verschuldung pro Kopf in
der EU. Die Gesamtsumme aller Hypotheken ist seit 1995 von 140 auf 640
Milliarden Euro gestiegen, das entspricht 105 Prozent des BIP. Laut
einer Prognose der niederländischen Zentralbank ist jede dritte Hypothek
nicht mehr durch den Preis des Hauses gedeckt, wenn dieser um weitere 10
Prozent sinkt.
Das Platzen der Hypotheken-Blase würde vor allem die größten Banken des
Landes treffen, die einen Großteil der Hypotheken finanzieren. Im Juni
hat Moody’s bereits fünf der größten Finanzinstitute herabgestuft.
Diese hatten schon in den letzten Jahren massiv Arbeitsplätze abgebaut.
So kündigte allein die größte Bank des Landes, die ING Bank, Ende
letzten Jahres den Abbau von jedem achten Arbeitsplatz an. 2.700 der
20.000 Arbeitsplätze in den Niederlanden sollen in den nächsten zwei
Jahren wegfallen.
Die Gewerkschaften hatten schon 2011 dem schrittweisen Abbau von 11.000
Arbeitsplätzen beim internationalen Post- und Transportunternehmen TNT
zugestimmt. Der Telekommunikationskonzern KPN, hervorgegangen aus dem
staatlichen Post- und Telefonunternehmen, hat den Abbau von 5.000
Arbeitsplätzen bis Ende nächsten Jahres angekündigt.
Im ersten Halbjahr 2012 meldeten über 4.100 Unternehmen Insolvenz an,
darunter vor allem Finanzinstitute. Die Arbeitslosigkeit steigt rasant
auf neue Rekordwerte. Allein im Monat Juli verloren 14.000 Menschen ihre
Stellen, rund 500 jeden Tag. Zum ersten Mal seit Jahren sind wieder mehr
als eine halbe Million Niederländer offiziell arbeitslos gemeldet, die
Quote erreichte 6,5 %.
Nach der Wahl erwarten die arbeitende Bevölkerung verstärkte Angriffe.
Viele Konzerne zögern den Abbau von Arbeitsplätzen hinaus, weil sie auf
eine Abschaffung des Kündigungsschutzes und teurer Abfindungsregelungen
warten. Sozialminister Henk Kamp (VVD) hat dies bereits in die Wege
geleitet, indem er den Sozialökonomischen Rat (SER) mit der Behandlung
der Frage beauftragte. Der SER ist ein korporatistisches Organ, in dem
Unternehmens- und Gewerkschaftsvertreter gemeinsam mit Experten die
Grundzüge der Wirtschaftpolitik ausarbeiten.
Kamp erklärte dazu, diese Reform werde die kommende Regierung gleich
nach der Wahl angehen. Gleichzeitig hat er auch die Prüfung der
Verlängerung der Wochenarbeitszeit in Auftrag gegeben.
Schon Ende des letzten Jahres hatte Kamp angekündigt, die Arbeitslosen
weiter unter Druck zu setzen. Sie müssten „alles tun, um Arbeit zu
finden“, auch Niedriglöhne und Arbeit in einem anderen Landesteil
annehmen. Wenn nicht, verlören sie ihr Recht auf Arbeitslosen- oder
Sozialhilfe, sagte er. Nun hat er dies kurz vor der Wahl noch einmal
unterstrichen.
Die Wirtschaft würde eine Neuauflage der Koalition zwischen der
sozialdemokratischen PvdA und der rechtsliberalen VVD begrüßen, um ein
Programm von Arbeitsplatzabbau, Lohnsenkungen, Deregulierung des
Arbeitsmarktes und der Streichung sozialer Errungenschaften
durchzuführen. Zwischen 1994 und 2002 hatte der Sozialdemokrat und
Gewerkschaftsführer Wim Kok eine solche Koalition geführt und den
niederländischen Sozialstaat weitgehend abgebaut. Ein Regierungschef
Samsom oder Rutte hätte nun die Aufgabe, die verbliebenen sozialen und
demokratischen Rechte zu schleifen.
Alle Parteien – einschließlich der SP – haben sich bereit erklärt, mit
allen anderen Parteien zu koalieren. Für Arbeiter gibt es beim morgigen
Urnengang keine Alternative. Ihnen sollen die Folgen und Lasten der
Krise aufgebürdet werden.
http://www.wsws.org/de/2012/sep2012/holl-s11.shtml
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