[D66] Niederlande: Große Koalition einigt sich auf hartes Sparprogramm

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Sat Nov 3 08:07:22 CET 2012


Niederlande: Große Koalition einigt sich auf hartes Sparprogramm
Von Elisabeth Zimmermann
3. November 2012

Eineinhalb Monate nach der Parlamentswahl vom 12. September haben sich 
die rechtsliberale VVD des amtierenden Ministerpräsident Mark Rutte und 
die sozialdemokratische PvdA unter Diederik Samson auf eine gemeinsame 
Regierungskoalition geeinigt. Grundlage der Koalitionsvereinbarung ist 
ein hartes und umfassendes Sparprogramm in Höhe von 15 Milliarden Euro.

Bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags am 29. Oktober in Den Haag, 
dem niederländischen Regierungssitz, sagte der alte und neue 
Regierungschef Rutte, es gehe darum, „den Staatshaushalt in Ordnung zu 
bringen, ehrlich zu teilen und nachhaltiges Wachstum zu stimulieren“. 
Der Koalitionsvertrag trägt die Überschrift „Brücken bauen“, aber sein 
Inhalt besteht vor allem aus einem harten Sparprogramm auf Kosten von 
Arbeitern, Arbeitslosen, Kranken und Rentnern.

Allein 5 Milliarden Euro sollen im Gesundheitswesen eingespart werden. 
Dazu wird der staatliche Beitrag zur Pflegeversicherung abgeschafft. Die 
Krankenkassenbeiträge bzw. Beiträge zum Gesundheitsfonds (hier galt 
bisher ein einheitlicher Beitragssatz) werden zukünftig stärker abhängig 
vom Einkommen berechnet. Zuschüsse für sozial Schwache werden gestrichen.

Des weiteren fällt das Tagegeld bei Krankenhausaufenthalten weg. 
Chronisch Kranke werden für ihre Behandlung und Pflege mehr selbst 
bezahlen müssen. Wer ohne Überweisung des Hausarztes zur Notaufnahme 
eines Krankenhauses geht, muss 50 Euro Eigenleistung entrichten.

Bei den Sozialausgaben sollen 3 Milliarden Euro eingespart werden. Die 
Kündigungsfristen für Unternehmen werden verkürzt und damit 
Abfindungszahlungen gesenkt. Die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds, das 
zur Zeit noch maximal 38 Monate beträgt, wird drastisch gekürzt. Ähnlich 
wie mit den Hartz-Gesetzen in Deutschland sollen Arbeitslose so 
gezwungen werden, schnellstmöglich wieder eine Arbeit aufzunehmen, auch 
wenn sie viel niedriger bezahlt wird als die bisherige Tätigkeit, und 
unter dem Ausbildungsstand des Betroffenen liegt. Dies wird zu einer 
weiteren Ausdehnung des Niedriglohnsektors führen.

Das Renteneintrittsalter wird schneller als ursprünglich geplant von 65 
auf 67 Jahre angehoben. Die Löhne für Beamte werden eingefroren. Des 
weiteren sollen durch die Zusammenlegung von Gemeinden mit weniger als 
100.000 Einwohnern und dem damit verbundenen Abbau von kommunalen 
Dienstleistungen und Personal weitere Einsparungen erzielt werden.

Eine weitere einschneidende und für viele Hundertausende Niederländer 
schmerzlich spürbare Maßnahme ist die massive Senkung des seit 1893 
möglichen Hypothekenabzugs, einer Art Eigenheimzulage. Bisher konnten 
Familien, die ein eigenes Haus bauen, 52 Prozent der Darlehenszinsen von 
der Steuer absetzen.

Die PvdA wollte diese „Subventionierung von Hausbesitzern“ ganz 
abschaffen. Ministerpräsident Rutte hatte während des Wahlkampfs dagegen 
versprochen, dass es keine Einschnitte bei schon laufenden 
Kreditverträgen für den Bau von Eigenheimen geben werde.

Der jetzige Koalitionsvertrag sieht vor, dass der Abzugssatz ab 2014 von 
derzeit 52 Prozent der Darlehenszinsen stufenweise auf 38 Prozent sinken 
wird, auch für bereits laufende Verträge. Die Regierung will auf diesem 
Weg 770 Millionen Euro einsparen. Für die betroffenen Familien bedeutet 
das eine drastische Erhöhung der Kosten für die Abbezahlung ihrer 
Häuser, obwohl dies angesichts des sinkenden Wertverlusts auf dem 
Immobilienmarkt für viele bereits jetzt extrem schwierig ist.

Die Entwicklungshilfe wird um eine Milliarde Euro auf knapp vier 
Milliarden Euro gekürzt.

Mit diesen Maßnahmen will die Regierung bis 2017 insgesamt 15 Milliarden 
Euro einsparen. Bereits im nächsten Jahr soll die Neuverschuldung, die 
nach EU-Vorgaben nicht mehr als 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts 
betragen darf, auf 2,7 Prozent gesenkt werden. Im letzten Jahr hatte sie 
noch 4,7 Prozent betragen.

Die Übereinstimmung zwischen Rechtsliberalen und Sozialdemokraten, die 
mit 79 von 150 Sitzen in der Zweiten Kammer über eine knappe Mehrheit 
verfügen, ist auch in der Steuerpolitik groß. Im Koalitionsvertrag haben 
sie die Senkung des Spitzensteuersatzes von 52 auf 49 Prozent 
vereinbart. Die Mehrwertsteuer war bereits mit dem Sparhaushalt vom 
April dieses Jahres auf 21 Prozent erhöht worden. Auch hier lautet die 
Devise: Den Armen nehmen und den Reichen geben.

Während bei Arbeitern, Arbeitslosen und Kranken gekürzt wird, werden die 
Ausgaben für die Polizei und den staatlichen Unterdrückungsapparat 
erhöht. Auch bei der Verschärfung des Ausländerrechts sind sich die 
Koalitionspartner einig. Ausländer sollen in Zukunft erst nach sieben 
statt bisher fünf Jahren die niederländische Staatsangehörigkeit 
erlangen können. Als kosmetisches Trostpflaster wurde beschlossen, dass 
sich Standesbeamte in Zukunft nicht mehr weigern dürfen, homosexuelle 
Paare zu trauen.

Die neue niederländische Regierung stärkt auch auf EU-Ebene allen den 
Rücken, die für schärfere Spar- und Repressionsmaßnahmen gegen die 
Arbeiterklasse stehen. So unterstützt sie die harte Haltung der 
deutschen Regierung gegenüber Griechenland, Portugal und Spanien. Sie 
befürwortet die Gründung einer europäischen Bankenunion und fordert 
strengere Einwanderungsregelungen für Europa, das heißt eine weitere 
Verschärfung der europäischen Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge und 
Einwanderer.

Dem Kabinett, das Premierminister Mark Rutte Anfang nächster Woche 
vorstellen wird, gehören nach bisherigen Medienberichten die 
Sozialdemokraten Jeroen Dijselbloem als Finanzminister, Frans Timmermans 
als Außenminister und Lodewijk Asscher als Sozialminister und 
stellvertretenden Regierungschef an. Diederik Samson bleibt 
Fraktionsvorsitzender der PvdA.

Der 38-jährige Lodewijk Asscher machte sich zuletzt als 
Sozialbürgermeister von Amsterdam einen Namen, indem er unter dem Motto 
„Kinder zuerst“ einen Grundwortschatz festlegte, den alle Vorschulkinder 
kennen müssen. Für Schulen stellte er einen Leistungskatalog auf, die 
sogenannte Asscher-Norm. Schulen, die in den Tests schlecht abschnitten, 
stellte er an den öffentlichen Pranger.

Diese Maßnahmen erinnern an die Methoden der Obama-Regierung in den USA. 
Sie machen Lehrer und Schüler für die miserablen Bedingungen 
verantwortlich, die an öffentlichen Schulen als Folge von Sparmaßnahmen 
und anderen sozialen Problemen herrschen, und rechtfertigen damit die 
Privatisierung von Bildung und anderen öffentlichen Dienstleistungen.

Trotz der enormen Angriffe auf grundlegende soziale Rechte der 
Arbeiterklasse, die in dem Koalitionsvertrag festgeschrieben sind, hat 
die neue Regierung von den Gewerkschaften oder der Sozialistischen 
Partei, die mit 15 Abgeordneten im Parlament vertreten ist, keine 
Opposition zu befürchten. Der niederländische Gewerkschaftsverband FNV 
kritisierte an dem Regierungsabkommen nur, dass VVD und PvdA zu viel 
sparten und zu wenig investierten. Ähnlich äußerte sich auch Emile 
Roemer, der Vorsitzende der Sozialistischen Partei: „Die VVD spart sehr 
streng, anstatt zu investieren. Das ist schade.“

http://wsws.org/de/2012/nov2012/holl-n03.shtml


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